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    …und bald ein Strassenfest?

    Wird aus Mimos langsam ein Strassentheaterfestival? Dem Bürgermeister von Périgueux erwartet  nicht nur wirtschaftlichen sondern auch sozialen Nutzen mit Outdoor-Truppen in allen Vierteln der Stadt. Das bringt Wählerstimmen, aber wie steht es mit der Kunstund der besonderen Qualität dieses Festivals? Das Strassentheater entwickelt sich derzeit in eine Richtung, die Mimos nicht dienlich ist. Nicht nur dass immer mehr Geschichten verbal erzählt werden. Immer länger hängt der Zuschauer in der Warteschleife vor jenen dem Mittelalter nachempfundenen Hütten in denen während zehn bis zwanzig Minuten etwa fünf bis zehn Personen Platz finden. Wer will bestreiten dass sich dank Wap und www.com ein zunehmender Bedarf an Intimität und Authentizität entwickelt, den man nur noch im Theater befriedigen kann? Die durchschnittliche Zuschauerzahl pro Vorstellung sinkt von Jahr zu Jahr. Unter diesen Miniaturen gibt es zwar echte Juwelen, doch gute Outdoor-Produktionen werden langsam rar. So gab es auf Mimos ein paar Neuheiten, die sich als Flops erwiesen. Zum Beispiel Hector Protector, denen nichts besseres einfällt als die Nummer von Schweineherr und Hühnchenfrau, die aus ihren Handtaschen eine gegrunzte und gegackerte Version von Carmen erklingen lassen und den Geschlechtertausch vollziehen. Diese Figuren sind kein genetischer, sondern ein künstlerischer Unfall. Genauso banal war die Kreation auf Mimos von Les Obsessionnels. Drei schwarze Spinnenfrauen auf Stelzen, die ausser ihren Kostümen nicht viel Kunst bieten. Zehn Minuten lang im Kreis hin und her laufen, sich auf Stelzen in die Horizontale legen und mit den Armen fuchteln, da soll Yanno Latrides lieber aufhören, sich für eine Choreografin zu halten.

     

    Spiele in den Sphären

    Natürlich gab es auch Lichtblicke in den Strassen von Périgueux. Denn sie schweben immer noch auf ihren Glasfiberstangen, diese Früchtchen aus Australien. Strange Fruit waren mal wieder in Europa und touren immer noch mit ihrem Erstlingswerk, „The Field", sieben Jahre nach dessen Premiere. Vier Paare in Abendgarderobe klettern auf ihre Hochsitze, gehen zum Ball, mimen Liebe und Streit während sie vier Meter über dem Boden, beinahe höfisch und dabei oft von tanzbarer, traditioneller Musik getragen, Annäherungsversuche, Liebe und Streit variieren. Man kann verstehen dass sie nicht wieder auf den Boden zurückkehren wollen. So konnte es nicht anders sein -  ihr drittes Stück, entstanden in diesem Jahr, spielt höchtens einen Meter tiefer auf denselben biegsamen Stangen, in und auf weissen, runden Laternen die in Pastellfarben angestrahlt werden. In deren Innerem entpuppen sich weisse Fabelwesen, die sich langsam aus ihren Kokons befreien und zu Musik und buntem Licht durch die Nacht schweben. „Spheres" ist besonders bei Vollmond zu empfehlen und gehört zu den poetischsten outdoor-Inzenierungen aller Zeiten. Besonders interessant: wer am dichtesten dran steht verliert am meisten von der Ästhetik. So können, wenn der Ort gut gewählt ist, auch 1000 Zuschauer oder mehr sich ihren Emotionen hingeben anstatt „Hinsetzen!" zu schreien. Das ist doch was. So wurde „Spheres" einer der Outdoor-Hits auf Mimos 2001.

     

    Spiele mit dem Feuer

    In ganz anderen Sphären, nämlich auf Stelzen und trotz bellender Sonnenhitze in schwarzem Frack, stürzen sich die Österreicher der Kompanie Irrwisch auf ihr Publikum. Und wenn ein Zuschauer seit Jahren aus seiner Wohnung das Treiben eines Festivals beobachtet, ohne dass ihn jemand wirklich kennt, dann stürmen die klassizistsch gestylten Irrwische eben die Wohnung des Opas. Ist er vielleicht der„Herr Wagenstreit" auf den sich der Titel der Aufführung bezieht? Irrwisch stellen sein Mobiliar im Fenster aus oder reichen es auf die Strasse durch, aber so dass es dem Opa Spass macht. Bravo!  Nur - was soll die banale Hampelei mit brennenden Fackeln in „Lasst sie brennen!", der Nachtperformance von Irrwisch? Zwei zehnjährige Knirpse im Off-Off von Mimos jonglierten wesentlich virtuoser. Und wenn man schon das Feuer als solches inszeniert dann sollte man Jonglage, Kostümdesign, Rhythmus und Choreographie so perfekt beherrschen wie Le Cirque Carapace (Insektenpanzer). Das sind Profis die in kein Off gehören, sondern ins offizielle Programm. Weltweit. Bei Carapace sieht man nicht Gaukler die mit dem Feuer hadern, sondern ein Ballett aus Flammen in dem der Mensch scheinbar von der Bühne verschwindet. Was bleibt ist pure Magie gewagtester Jonglage, die nur dann nicht zu Verbrennungen führt, wenn Choreografie und Akrobatik zentimetergenau beherrscht werden. Tänze mit Fackeln an den Füssen oder Schattentheater mit brennenden mannshohen Drahtfiguren sind nur zwei der optischen Delikatessen. Ihr Stück „Bruleur d'étoiles" (60 Min.) für fünf Artisten will keine eigene Geschichte erzählen sondern scheint die Legenden aller Kulturen miteinander zu verschmelzen. Es existiert seit 1999 und ist jetzt bereit, so richtig abzuheben.

     

    Spiele mit der Zärtlichkeit

    Die kleinen Formen können grossen Charme entwickeln. Zum Beispiel „Baggies", zwei sanfte possierliche Masken die sich wie Murmeltiere aneinander reiben. Das Duo Nakupelle (Finnland/USA) braucht zwar 15 Minuten um sich in seine Kostüme zu winden und spielt dann etwa genauso lange, aber sie verbreiten eine Streichelzoo-Atmosphäre an die man sich gerne erinnert. Das Ganze hat einen Touch von balinesischem Marionettentheater. Einzige Klage: es fehlt an Dramaturgie. Was wie ein Vorspiel anmutet war schon das Hauptgericht. Weit mehr im Einklang mit der Kürze der Aufführung und der Sparsamkeit der eingesetzten Mittel war ein portugiesisches Stelzenduo das im Off von Mimos auftrat. Ein Paar in traditonellen Folklorekostümen macht macht sich auf zum Picknick. Das war's. Und solch eine Banalität soll ein Szenario sein? Ach, denkt mal an Fellini oder Goldoni - der Süden macht's möglich. Ehestreit, Tratsch und Lust am essen, und das alles auf Stelzen gemimt und mit Chuzpe. Erst laufend und dann sitzend. Charakterstudien mit so tiefer Wahrheit können richtig verzaubern. Zu dem Duo Kabong aus Porto gehört übrigens eine im Saarland aufgewachsene Deutsch-Portugiesin.

     

    Das Spiel mit dem «Off»

    Die Off-Kompanien werden auf Mimos werden relativ gut betreut. Es gibt Logen und  Duschen, man bemüht sich, die Zeiten und Spielorte den Aufführungen anzupassen, Namen der Kompanien und Stücke werden ausgehängt, das Programm ist übersichtlich und wird kostenlos verteilt. Und das Publikum sucht nicht den totalen Konsum sondern weiss sich auf die Künstler einzulassen (und kann sehr grosszügig sein). Diese Vorzüge gibt es natürlich nicht umsonst. Die Aufführungen müssen mehrheitlich Körpersprache einsetzen. Marktschreier werden nicht zugelassen. Es ist eine Gratwanderung zwischen der prinzipiellen Freiheit des Off und dem Bewahren eines besonderen Charakters auf Mimos. Doch es gelingt. Die Künstler begreifen und akzeptieren die Spielregeln. So bietet Mim'off einen dankbaren Rahmen für kleine Kompanien die mit dem Körper, mit Masken oder Marionetten arbeiten, für ausgereifte Produktionen die den Weg ins In suchen und sogar für Schauspieler die einfach mal das etwas andere Theater ausprobieren wollen.

     

    Redaktion: Thomas Hahn

     

    2001-09-15 | Nr. 32 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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