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    19. Internationale Kulturbörse Freiburg:

    Ein Quantensprung

    Eine neue Halle mit 2.000 Quadratmetern fürs Straßentheater und ein auf 600 Plätze erweiterter Theatersaal mit neuer Eingangssituation – mit der 19. Auflage vollführte die Internationale Kulturbörse Freiburg ein Jahr vor ihrem zwanzigsten Geburtstag einen Quantensprung. Wachsende Besucher- und stabile Ausstellerzahlen zeichnen die Messe seit Jahren aus, und trotz Erweiterung platzte der Theatersaal wieder beinahe aus den Nähten. Dem Straßentheater bescherte die Halle nicht unbedingt mehr Zuschauer, wohl aber endlich einen eigenen Ort, an dem Darbietungen nicht als Störfaktor wahrgenommen wurden. Obwohl man sich redlich Mühe gegeben hatte, der riesigen Ausstellungsfläche durch Marktstände und Grünpflanzen Flair einzuhauchen, war in den schier unendlichen Weiten nur gut aufgehoben, wer sich wie die Damenformation Venusbrass ordentlich und raumgreifend Gehör verschaffte. Zum Glück war vom Straßentheaterspektakel vor der Tür im Theatersaal dank einer genialen Doppeltextilwand fast gar nichts zu hören, und gar nichts hörte leider auch, wer zu spät zur Vorstellung kam. Stumm wie Fische flimmerten die Akteure des Bühnengeschehens über die neuen Monitore in der Ausstellerhalle. In der Vorbereitung für den großen Quantensprung hatte man wohl die Hausaufgaben nicht richtig gemacht. So waren manche Messestände und Künstler, obwohl fristgerecht angemeldet und auch leibhaftig erschienen, wie weggezaubert, weil man schlichtweg vergessen hatte, sie im Katalog zu listen. Mit einer Unterschriftenaktion verlieh man dem Ärger Ausdruck. Noch nicht wirklich etabliert hat sich die Messe als Musikmarktplatz, aber es gab Ansätze, die Wachstum mit Niveau versprechen. Erstmals zeigte das Fachmagazin Jazz Thing in Kooperation mit dem Label Double Moon aus ihrer Reihe „Jazz Thing – Next Generation“ auf der Musikbühne einen Block mit zukunftsweisendem Jazz: die Vokalistin Esther Kaiser, das Schweizer Trio Tré und die Kölner Formation Oktoposse. Ein fast durchweg hohes Niveau hatten die Vorstellungen im Theatersaal.

    Große Kunst, ein Maestro, Joseph Collard war da am zweiten Messeabend zu sehen, und man konnte das noch bis in den letzten Winkel des Theaters spüren. Collard berührte sein Publikum, führte durch Stationen auf seinem Werdegang als Pantomime und wuchs damit weit über den Kleinkunsthorizont hinaus. Sein leidenschaftliches Bekenntnis zu seiner Kunst, mit der er alles machen kann, die ihm die ganze Welt zu Füßen legt und seiner Fantasie Flügel verleiht, war der unangefochtene Höhepunkt im Theatersaal.

    Gleich zwei Kabarettisten aus Österreich fielen auf. Ein Schlagerschlächter der brutalsten Sorte und doch ein feiner Schöngeist ist Oliver Baier. „Das Leben ist ein Schlager“ ist eine originelle und klug gemachte Exkursion ins Reich der deutschsprachigen Unterhaltung, bei der Schlagertexter wahlweise als Psychopaten, schwanzgesteuerte Trottel oder Scheidungsgrund auffliegen. Auf den richtigen Ton kommt es Baier an. Souverän machte er sich die Bühne dabei Untertan und blieb nicht im reinen Wortspiel stecken, sondern trat schon mal mit einem Bein, das „Bett im Kornfeld“ auf den Lippen, beherzt das bösartige Mark aus den Texten heraus. Werner Brix betrat in „Brix allein im Megaplexx“ die Bühne als Therapieraum. Es fiel Brix nicht schwer, sich in der Therapie zu öffnen, schließlich macht er das in Managementseminaren tagaus, tagein. Er ist es gewohnt, die Seele schon telefonisch zu Füßen zu legen. Schnelligkeit bestimmt das Tempo in der Chefetage, der Urtrieb, der bereits dem Steinzeitjäger in die Wiege gelegt wurde. Dieser „Quantenzeit“ hat sich selbst Sprache unterzuordnen. Französisch ist als Managementsprache untauglich, weil zu langsam, und ein Witz aus dem Burgenland wird in New York zum Zeitlupenwitz. Stress weckt archaische Instinkte und macht besonders konstruktiv. In der Stresschemie wird der Schmetterling, der auf die Windschutzscheibe knallt, zu Lyrik. So hat „Brix allein im Megaplexx“ den Manager kuriert und dem Publikum gefallen. „Der wüstenrote Neandertaler oder wie aus Affen Bausparer wurden“ von Werner Koczwara war sprachlich so sperrig, dass sich viele bereits nach wenigen Einstiegssätzen ausgeklinkt hatten. Betuliches Schwäbisch und ein im Zeitlupentempo ausgeworfener roter Handlungsfaden – da tickt die „Quantenzeit“ auch schon mal beim Kultur-Fachpublikum.

    Ein Glanzpunkt der Sparte politisches Kabarett hingegen war Mathias Tretter, der sich mit seinem jugendlichen Charme doch tatsächlich in die Fußstapfen eines Dieter Hildebrand wagte. Schlicht wie Hildebrand nämlich, ungekünstelt, nur mit sich selbst, einem Straßenanzug und seinem Charisma gewappnet, zog Tretter seine beißend-spöttelnden Wortstrippen – immer gerade recht für den freien, vergnüglichen (Lachan-)Fall ohne Niveauverlust. Dieser kühne und doch nicht so kühne Auftritt gelang ihm meisterlich – aber nicht altmeisterlich.

    Wie schön, dass diese neue Einfachheit selbst in anderen Sparten die Bühne wie im Sturm eroberte: Denn auch Uta Köbernick ist so eine Perle der schlichten Raffinesse. Das unverbrauchte Talent aus der Schweiz brillierte mit der Wandergitarre und nur einer Tonart. Der aber gewann sie mit ihrem blitzgescheiten Gequassel einen selten schönen Tiefgang ab, etwa wenn sie von ihrem Teddybären singt, dem einzigen stummen Zeugen ihrer inneren Abgründe und Verwandlungen, der sie so beseelt aus seinen Knopfaugen ansieht, während sie sich aus der Kindheit verabschiedet. Köbernicks pure Gedankenenergie kann Bedeutungen wie Berge versetzen. Worthülsen fliegen auf und landen an völlig unerwarteten Orten. Am Ende der Vorstellung erlaubte ihr schier nicht enden wollender Assoziationswortbogen einen wundervollen Einblick in ihr kluges, kreatives Köpfchen – so jedenfalls, um mit Köbernick zu sprechen, sah es von außen betrachtet aus. Ein Wahlverwandter war auch Christian Hirdes, der unschuldig dreinblickende Wortkugelblitz. Erwachsenenthemen greift der aber durchaus deftig auf und konterkariert diese Derbheiten mit seiner vergeistigten Unschuldsmine.

    Florian Schroeder, der aus Freiburg stammende „Noch“-Student, entpuppte sich nicht nur als begnadeter Parodist, sondern auch als schlagfertiger und -kräftiger Polit-Komödiant. Herrlich, wenn er Angela Merkel, der „Perle der Uckermark“, seine Worte in den Mund legt, oder Edmund Stoibers Scheitern auf der Zielgeraden vorführt, der mit einem letzten Wort einen ganzen Satz ruinieren kann – gerade so, als ob man eine Blume hinrichtet. Mit einer „Kehlkopfanomalie“, nämlich der alemannischen Mundart, räumte Florian Schroeder vollends ab. Wer in Mannheim aus dem Zug steigt, wird von der Bahnhofsansage besungen, nicht informiert. Das wunderte Schroeder wenig in einer Stadt, in der Xavier Naidoo mit dem „Wachturm“ auf CD Erfolg hat und so der Missionarsstellung eine völlig neue Bedeutung beschert. Kabarettist Nito Torres machte einen auf schwanger. Eine wirklich hässliche Kröte packte er da mit diesem Herrn „Wennemann“ auf die Bühne. Geschmackloses spritzte bei der männlichen Kopfgeburt. Die giftige Galle eines durch politische Korrektheit ausgehebelten Sexisten, eines Sprachlosen – das wäre ja mal ein Thema gewesen. Wenn aber etwas so klischeebeladen und dumpfbackig das Licht der Welt erblickt, verlassen nicht nur Frauen gelangweilt den Theatersaal. Nils Heinrich war bei der Freiburger Kulturbörse das erste Mal in seinem Leben ein Messe-Ausstellungsstück und das weckte den Johnny Cash in ihm – mit einer Umdichtung des Cash-Songs „Bad World“. Mit Bravour zappelte sich der junge Lesekabarettist durch seine skurrile kleine Welt, durch seine Kindheit im Osten, die ihm eine harte Lebensschule war. Heute träumt er von der Lesefreiheit in einer Welt, in der es immer mehr Menschen gibt, die mit dem Ghetto-Blaster Bass haben. Ein zarter, verzweifelter Intellektueller hechelte sich da durchs Lebensgemüse und man hätte sich gewünscht, dass er statt seines Angler-Raps einem lieber noch mehr die Leviten liest.

    Franziska Traub vertratschte und verhedderte sich in ihrem Kabarett Solo „Rache ist süß – eine Frau backt aus“ im Chaos zwischen komödiantischen Schaumtortenbäckereien und dünnteigigen Spracheinlagen. Nicht wirklich al dente, dieser Kabarett-Comedy-Mischmasch, obwohl das komödiantische Grundrezept durchaus sahnig war. Überhaupt hatten es die Genre-Zwitter schwer, sich gegen die exorbitante Konkurrenz durchzusetzen. Das satirische Selbsthilfe-Motivationsseminar „dbaö – du bisch au döppert“ von Anet Corti ging jedenfalls, trotz des recht solide gemachten Einstiegs durch die Figur der Assistentin, nach hinten los. Wie gut, dass dieser komödiantische Schundschinken erst am Ende eines überaus erfreulichen Theatersaaltages zur Heimfahrt animierte.

    Wie nahe doch eine Katalog-Kurzbeschreibung manchmal an die Bühnenrealität heranreicht: „Noch vor dem Ende der Reise verlassen die ersten Passagiere das Schiff mit den Füßen voran“, steht dort über die O Tonpiraten zu lesen. Die Playbackshow mit fünf Tänzer-Schauspieler-Dummys, die Originaltöne aus Filmklassikern auf ihren Lippen tragen, ist eigentlich eine geniale Idee, aber nur mittelprächtig war ihre Ausführung. Die O Tonpiraten lieferten einen wirren Kostümschinken ab. Die fünf „Piraten“ jedenfalls erreichten darstellerisch bei Weitem nicht die Strahlkraft der O-Töne, nicht einmal als Persiflage. Mag sein, dass die szenische Auswahl dazu beigetragen hat.

    Der Comedian Horst Fyrguth schlüpft bei seinem Programm „Scheitern als Chance – ein Waldorf-Schüler schlägt zurück“ in die Haut eines sympathischen Antihelden, eines Waldorf-Schülers mit Bodenhaftung, der es dem Publikum nicht sonderlich schwer machte, sich sofort mit ihm zu solidarisieren. Fyrguth, das Beziehungszeugnis seiner Freundin in der Tasche, machte sich auf, den Gemeinheiten dieser Welt aus der Perspektive des kleinen Mannes auf den Zahn zu fühlen, und erntete damit tosenden Applaus. Mut zur Hässlichkeit und die Gabe, sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen, sind ja schon gute Ansätze, doch das mündete beim Comedy-Trio Eure Mütter in jene verschrobene Form von Bühneneitelkeit, die das Publikum mit Inhaltslosigkeit und Schüttelreimen überstrapazierte. Was Eure Mütter in endlose Nummern packte, hätte auch in kurzen Sequenzen gesagt werden können. Erst am Ende der Vorstellung badeten Eure Mütter es im wahrsten Sinn des Wortes aus: Mit dem Kopf im Putzeimer und einer Schopfschüttelchoreografie, die zumindest in der ersten Saalreihe kein Auge mehr trocken ließ und die Bühne mit Seifenschaum flutete.

    Zärtlichkeiten mit Freunden bot eine unverschämt lässige Clown-Comedy-Musikkabarett-Nummer, die einen eigenen Genre-Namen zu Recht verdient hat: Musik-Kasparett. So herrlich flapsig, so verflucht selbstgefällig und so dermaßen gut ist dieses Duo, dass es sich schon nach wenigen Sekunden im Rampenlicht vom Publikum zur Zugabe klatschen ließ, seine eigene Vorband mimte und dann sich selbst auch noch übertraf. Ein rittlings genommenes Schlagzeug, und dabei mit Maskerade und Körperbeherrschung die Vorderseite nur vorgetäuscht, wird einer der beiden wohl in die Musikgeschichte eingehen und das verkasperte Duo nach ganz oben katapultieren. Nur zu! Das Schweizer Musik-Clown-Comedy-Duo Beckle Men überraschte bei seiner temporeichen Nummer „Ich ... und er“ mit zweihändigem Klarinettenspiel – wohlgemerkt mit je einer Hand des anderen im Zusammenspiel. Wenn eine Rampensau auf ein Bühnenmauerblümchen trifft, dann heizt der Selbstbehauptungstrieb mächtig ein und fördert bei einer musikalischen Weltreise erstaunliche Qualitäten und Temperamente aus Mensch und Material zutage: ein Brite trifft auf einen Russen, ein Matador auf den Stier, Musikinstrumente werden zu Wurfspieß oder Schreibmaschine. Hohes Tempo, hohes Niveau! Ein klassischer Gitarrist und sein Publikum werden beim „Pasta Disasta“ der Musik-Comedians Hubert Wolf und Bruno Reininger gekidnappt. Nach diesem fulminanten Überraschungsangriff ging dem quirligen Pastamafiosi an der Seite seines stoischen Gitarristen Bruno Reininger allerdings allmählich die Puste aus. Kriminalpsychologisch fein beobachtet, breitet der Täter mit seinem Italo-Schmelz dem Opfer sein Innerstes aus und mutiert am Ende zur bedauernswerten Schießbudenfigur. Schade nur, dass sich der vielversprechende Spannungsbogen im Verlauf des Geschehens nach unten bog.

    Kuddel Daddeldu, der singende Matrose mit dem großen Herz, die Figur, mit der Joachim Ringelnatz in den 20er- bis 30er-Jahren über die Kabarettbühnen zog, wurde von Dirk Langer als Nagelritz im schlichten Matrosenanzug wiederbelebt. Selbst vertont hat Langer die lyrische Vorlage. Eine schöne nostalgische Hommage ist dabei herausgekommen – und wie der Name Nagelritz ja schon verrät: ein Zeitgeist und einer wie Ringelnatz lässt sich nur schwer reanimieren, wohl aber neu beseelen. Konrad Stöckel ist ein Unikum und ein Kracher. Da steht dieser sympathische Bär von Typ auf der Bühne, mit einem Charme, der jedes Publikum im Nu handzahm und willig macht, und zelebriert die hohe Schule der alten Gauklerkunst. Stöckel schiebt sich einen Kracher in den Popo, steckt sich einen Nagel durch die Nase bis ins Hirnstübchen und futtert Glühbirnen, dass die Zähne knirschen und sich Nackenhaare in die Stille, die sich im Saale ausgebreitete, hörbar hineinsträubten. Aus der sagenhaften Spannung zwischen dem Kerl und der kuriosen Darbietung speist sich dieses wahrhaft atemberaubende Extremprogramm, und es ist absolut nichts für Zartbesaitete. Stöckel ist extrem gut, aber echte Geschmackssache.

    Einen Varieté-Block der Extraklasse hatte man am Donnerstagabend aufgeboten und mit Matthias Brodowy einen Moderator, der spielerisch-leicht lebhaften Glanz verlieh und doch mit der Autorität eines Varieté-Direktors durchs Programm führte. Zu bestaunen gab es Dennis „Yo-Yo“ Schleußner mit verblüffend verstrickter Yo-Yo-Artistik, die Comedy-Tanz-Formation Starbugs, mit dem Duo Chronkh poetische und verblüffend kraftvolle Artistik in der Sauna, Jonglage mit Thomas Dietz, das Akrobatikduo Nos Ipsi an der Vertikalstange, Ellen Urban am Vertikaltuch mit Tango Livemusik und den geschmeidigen Clown Elastic.

    Der Comedy-Zauberer Manuel Muerte wirbelte mit seiner Assistentin Silvana Busoni durch eine Retro-Welt voll makabrer und schrulliger Untertöne, und so verging die Zeit wie im Flug. Eine Botschaft aber ist am Ende angekommen – das Varieté lebt!

    Redaktion:Sibylle Zerr

    2007-03-15 | Nr. 54 | Weitere Artikel von: Sibylle Zerr





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