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    Aktuelle Kritik - „Viel Tunnel am Ende des Lichts“

    Jubiläumsprogramm Kabarett-Theater Die Stachelschweine

    Mit dem im Europa-Center am Tauentzien ansässigen Kabarett-Theater „Die Stachelschweine“ assoziierte man bislang die solide, etwas altbackene Form des klassischen Ensemble-Kabaretts, das von gut situierten West-Berlinern und Touristen frequentiert wird. 1949 wurde es gegründet und avancierte mit so namhaften Protagonisten wie Günther Pfitzmann und Wolfgang Gruner zu den ersten Adressen für Kabarett und Satire an der Spree. Letztes Jahr feierte das Theater sein 70jähriges Jubiläum und will sich aus diesem Anlass neu erfinden. Frank Lüdecke – der erfahrene Berliner Autor und Kabarettist - hat gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und Managerin Caroline die künstlerische Leitung übernommen und fungiert gleichzeitig als Haus-Autor und Regisseur. Als solcher hat er gleich zwei Jubiläums-Programme auf die Bühne gebracht. Eins davon trägt den schönen Titel „Viel Tunnel am Ende des Lichts“. Und tatsächlich: Nicht nur die drei Darsteller sind jung und frisch, auch das Foyer ist neu gestaltet und kommt im loungigen Stil daher. Die gut situierten West-Berliner und Touristen bevölkern allerdings nach wie vor das Theater.

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    „Viel Tunnel am Ende des Lichts“ lässt drei Protagonisten auf dem Dach des Europacenter aufeinandertreffen: Einen Klimaforscher, der die Absicht hat, diesen widerlichen Konsumtempel in die Luft zu sprengen, sowie eine frustrierte Grundschullehrerin und einen (aufgrund des massiv um sich greifenden Trends zum veganen Lebensstil) insolventen Fleischgroßhändler, die ihrem Leben ein Ende setzen und sich 103 Meter in die Tiefe stürzen wollen. Eine perfekte Ausgangssituation, um drei der brisantesten Problemthemen unserer Zeit abzuhandeln: Bildungsmisere, Klimawandel und Nachhaltigkeit. Dass Lüdecke um dieses Szenario herum noch eine Meta-Ebene baut, in der die Darsteller am Anfang und vor der Pause aus ihren Rollen herausgehen und quasi als „sie selbst“ auftreten, erscheint fast unnötig. Der Interaktion mit den – sehr kommentierfreudigen - Zuschauern tut es ohne Zweifel gut.

    Melissa Anna Schmidt als Grundschullehrerin, Julian Trostorf als Geschäftsmann und Steven Klopp als Klimaforscher bringen große Spielfreude mit und laufen immer dann zu Hochform auf, wenn sie ihren schauspielerischen Fähigkeiten freien Lauf lassen können. Wunderbar zum Beispiel die zynische Ansprache der Lehrerin beim Elternabend, in der die Resignation über ihren Beruf auf den Punkt gebracht wird: Nicht nur, dass sie sich gezwungen sieht, die anwesenden Eltern außer auf deutsch auch noch auf türkisch und arabisch zu begrüßen, die Pädagogin muss zusätzliche Qualifikationen als Drogenberaterin und Psychotherapeutin mitbringen und überlebt ihren Job nur noch mithilfe von Alkohol und regelmäßigem Blaumachen. Großartig auch die Szene, in der Fleischgroßhändler Sebastian bei der Hotline für Suizidgefährdete anruft und, nachdem er minutenlange, automatische Wahloptionen durchlaufen muss, vom pragmatischen Berater zur Telefonsex-Hotline und von dieser zu einer dubiosen Online-Bank durchgestellt wird. Eindringlich gespielt ist auch das Plädoyer des Klimaforschers, das er direkt an das Publikum richtet: „Unsere Erde verglüht! Aber der Berliner sorgt sich um steigende Mieten und das Grundeinkommen!“ Auch die Szene, in der die Darsteller als Vertreter von Deutschland, Frankreich und Griechenland um die Aufnahme von Flüchtlingen feilschen, ist Satire vom Feinsten.

    Die kabarettistische Attitüde gelingt den drei Schauspielern jedoch nur bedingt. Lüdecke legt den drei Protagonisten ihren Rollen entsprechend immer wieder politische Statements in den Mund, die seltsam gewollt anmuten. Stellenweise wirkt auch die Inszenierung an sich aufgesetzt. Die eigentliche Story, die erzählt werden soll, verliert sich immer wieder in dem zu offensichtlichen Bemühen, politisches Kabarett in der gewohnten Stachelschweine-Manier zu bedienen. Dabei bleibt die Gesellschaftskritik an der Oberfläche, kein Thema wird wirklich vertieft, weh tut da nichts. Die Pointen sind ohne Zweifel gekonnt geschrieben, oftmals aber vorhersehbar.

    Die musikalischen Nummern des Programms, für die Sören Sieg verantwortlich zeichnet und bei denen sich die Darsteller gegenseitig an Klavier und Cajon begleiten, sind von unterschiedlicher Qualität. Highlight ist ganz klar das von Julian Trostorf sowohl stimmlich, als auch interpretatorisch überzeugend dargebotene Klagelied des gebeutelten Geschäftsmanns „Was wollt ihr alle bloss von mir?“ Mitreißend ist auch der Zugaben-Song zum Stachelschweine-Jubiläum – dokumentiert von an die Wand projizierten Bildern aus der Geschichte des Kabarett-Theaters. Da kommt Nostalgie auf - und das wohlige Gefühl im Publikum: Trotz Klimawandel, Bildungsmisere und Konsumwahn müssen wir nichts ändern – solange die „Stachelschweine“ das Licht am Ende des Tunnels sind.



    Redaktion:
    Nikola Krüger

    Bildnachweis:
    Viel Tunnel am Ende des Lichts Foto: DERDEHMEL
     

     

    2020-01-10 | Nr. 106 | Weitere Artikel von: Nikola Krüger





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