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    Da müssen mal die Emotionen raus


    “Na, Millennium überlebt?” fragte forsch Lisa Politt von Herrchens Frauchen das Publikum im Schmidt zu Beginn des Programms “Vorläufiges Endergebnis”. Gleich ob es um Deppen, Einsamkeit oder Tod ging: Lisa Politt sang mit zwingender Intensität. Das war große Kleinkunst. Wenn das nächste Jahrtausend auch so anfängt: Wir sind dabei.

    Ausgesprochen nachdenklich und verletzbar präsentierte sich die Politt: “Mach das Licht aus. Ich kann dich nicht mehr sehen. Lass mich träumen, was im Licht nicht mehr sein kann.” Und gleich darauf agierte sie bereits wieder als satirische Domina. Das war mehr als eine biographische und gesellschaftspolitische Bestandsaufnahme, nämlich ein Schnitt durchs Leben. Großartig.

    Großartig sind seit jeher auch Georgette Dee und Terry Truck. Die schwere Ballade sang die Diva gleich vornweg, dann habe man das wenigstens schon hinter sich. Aber wenn man etwas hinter sich hat, kommt auch gleich wieder etwas neues. So ist das mit der Liebe, und so ist das auch mit den Liedern der Dee. Das Programm “Kupfermond” wurde im Tivoli begeistert gefeiert. Noch in der ersten Programmhälfte rief die Dee nach dem “Getränkemeister”, dem “Mundschenk”, um sich klare Sachen in klaren Gläsern bringen zu lassen. Und klar waren dann auch ihre Gedanken zur Liebe. Ausgehend von der Formel “falling in love” erklärte sie das Fallen zu einer natürlichen Bewegung des Menschen. Zwar habe er das verlernt, doch nur darum ginge es, auch wenn man dabei hinfallen oder zerschellen sollte. Das machte Mut. Da ging sogar der Zaghafte zum Schicksal und sagte: “Machs mir!”

    Selbst nennt sich Martina Brandl gerne “die böse Diseuse”. Was man sich darunter vorzustellen hat, erklärte gleich das erste Lied: “Wäre ja gelacht, ich habe auch schon andere mies draufgebracht”. Es folgen Publikumsbeschimpfungen, Nörgeleien und gemeine Lieder. “Ich möchte keinen sehen, der den Saal verlässt; beim Zahnarzt kann man ja auch nicht zwischendurch aufs Klo gehen”. Ohnehin wollte im Schmidt niemand den Saal verlassen. Denn die  Brandl hat Witz, Charme, Ausstrahlung, beherrscht das Handwerk und besitzt ein perfektes Timing. Dies Können erlaubt es ihr, die Farce und Dekonstruktion als Kunstmittel einzusetzen. Zwar sind ihre Themen meist banal, erfahren aber aus der Differenz zu grotesken Aperçus, Gesten und Bewegungen einen fabelhaften Mehrwert: Komik.

    Mag ja sein, dass das ehrwürdige Düsseldorfer Kom(m)ödchen auch schon mal in einem Form­tief stak, doch was Nicole Ankenbrand, Volker Diefes und Christian Ehring seit zwei Jahren zusammen leisten, ist nicht anders als exzellent zu nennen. Feines, in Geschichten aufgehobenes Kabarett, das großen Beifall verdient. Den gab es denn auch im Lustspielhaus fürs neue Programm “Amok”. Die sympathischen Darsteller ließen sich Zeit, eilten nicht von einer Pointe zur nächsten, sondern brillierten mit szenischen Brüchen, feinem Witz und erstklassigem Schauspiel. Nebenher wurde dem Publikum ein Blick in die Zukunft gewährt. Wissen Sie, geneigte Leserin, mit welchem Coup unser Kanzler die nächsten Wahlen gewinnt? Er heiratet Mutter Beimer. Und in seiner vierten Amtszeit entlässt er alle Kabinettsmitglieder und krönt sich selbst im Phantasialand zum Kaiser. Spätestens dann sollte man über “Amok” noch einmal nachdenken...

    Dass Tom und Jerry sowie A- und B-Hörnchen in einer schwulen Wohngemeinschaft zusammenleben, wusste man ja schon, aber wer hätte gedacht, dass Goofy, der hündische Freund von Micky Maus, ein begnadeter Cellist ist? Herausgefunden hat all das der Ham­burger Comedian Monty Ar­nold. “Gruppenbild mit Alpha-Männchen” heißt sein inzwischen 16. Programm, das er im Atrium vorstellte. Am Klavier werkelte in bewährter Manier Doktor Berti alias Hans-Peter Reutter. Inhalt des Programms war eine Revue der Ikonen der Unterhaltungsindustrie. Das begann mit Laurel und Hardy, setzte sich fort mit dem Glückssuchenden Herrn Rossi, sparte auch Frank Sinatra nicht aus und erschöpfte sich endlich bei Götz George. Insgesamt eine anständige Leistung, wenn auch manches Lied und manche Parodie belanglos blieben und manche Satire zu alt­backen ausfiel.

    Franz Josef Degenhardt trat im Lustspielhaus als “alter Kampfgefährte aus antiautoritären Tagen” auf, redete von nostalgischen Schaudern und sang “Sonntags in der kleinen Stadt”. Und immer wieder blitzten kühne Verse in seinen Texten auf, die aufschrecken ließen. Degenhardt ist ein Meister der Irritation. Auch seine Ironie ist schwer einzuschätzen. “Arbeitslosigkeit? So was. Das ist ein Thema. Da müssen mal die Emotionen raus.” Erklärte er und sang “So what!” Als er “Unter der Linde” über das Leben nachdachte, wies er sich sogar als veritabler Erbe Bert Brechts aus. Wer sonst kann solche Liebeslieder schreiben? Alles ist vergänglich, somit vergeblich. So sind die Zeiten.

    Redaktion:
    Jörg Noll

    2000-06-15 | Nr. 27 | Weitere Artikel von: Jörg Noll





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