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    Das Wandern ist der Straßen Lust

    Paraden lassen sich in solche für schmale Straßen teilen und in solche, bei denen Massen über abgesperrte Hauptverkehrsadern ziehen. Die kleinen Formate spielen mit dem Publikum, variieren das Tempo, die Richtung. Drei Schritt nach vorn, und manchmal zwei zurück. Die monumentalen Umzüge mit ihren Karossen halten nur eventuell mal an. Sie sind schwerfällig, aber sie schaffen ein Gemeinschaftsgefühl im Publikum, gerade durch ihr gleichmäßiges Tempo. Spielwitz bei den kleinen, Ritual bei den großen. Die Parade ist der Ursprung des Straßentheaters. Sie erhält ihm seine subversive Kraft.

     Ludger HollmannBesonderns feinsinnig im Spiel mit dem Publikum sind die zwei Gentlemen von L’Excuse, deren Gesichter auf zwei übergroßen Bildschirmen erscheinen. Mit Koffer und Blumenstrauß in der Hand bitten sie Passanten um Auskünfte. Die Stimmen klingen metallisch, die Gesichter sind an Stirn und Kinn geschnitten. So wirkt ihre Mimik wie mit der Lupe betrachtet. Aber sie können auch ihre Erinnerungen mit uns teilen, über kleine Filme. In „Homocatodicus“ spiegelt sich die Suche nach einem Menschenbild zwischen Emotion und Technisierung. Was wird aus dem Zwischenmenschlichen, wenn wir über Bildschirme kommunizieren? (http://compagnie.excuse.free.fr)

    Unglaublich agil und unvorhersehbar in ihren Wendungen sind die zwei Meter hohen Pantoffeltiere von Bouldegom. Die putzige Mischung aus Großmutter (in Pelz, mit Spitzenhäubchen), Kamel und Dino wirkt schwer und ist doch federleicht, wirkt behäbig und ist umso agiler. Sie können schon Furcht einflößen, wenn sie ihre knorrigen Riesenhände ausstrecken und sich am Zuschauer reiben, doch begreift der sofort, dass sie nur sanfte Absichten haben. Es ist eine Lektion im Überwinden der Angst vor Andersartigem. (http://www.bouldegom.com/)

    Viel schwerer fällt das, gerät man in den Bann des wandelnden Augenpaars von „Orbylis“ der belgischen Kompanie d’Outre-Rue. Augäpfel und Nervenstränge, wohin man nur schaut. Es ist wohl auch zum Gruseln gedacht, und wenn sie sich über den Teller eines Restaurantkunden beugen, wird das Thema „Augenschmaus“ plötzlich viel konkreter. Sind sie die Inkarnation eines Überwachungsstaates, Forscher oder Mutanten? Wie L’Excuse garantieren sie intelligentes Erstaunen. (http://www.outrerue.be)

    Bei aller Folklore, die auf Stelzen unterwegs ist, verdient die Schar der Waldgeister aus den Ardennen besondere Erwähnung. Sie schaffen es, den Tag zur Nacht zu machen und die Stadt in einen Wald zu verwandeln, mit Gottheiten, Vögeln, Bär und Stachelschwein. Die „Fantastique meute revinoise“ der Kompanie Arel ist Magie und Sagenwelt pur. (FMR-AREL@voila.fr)

    So weit sind Italento mit ihrem Waldepos noch nicht. Noch ist die italienische Kompanie bekannt für „Carrillon“, den weißen Konzertflügel, der durch die Straßen rollt und auf dem sich eine romantische Ballerina dreht. Nachts finden wir sie wieder, als Elfe an der Spitze der Parade „La foresta di Lothian“, gefolgt von Magier, zwei Bäumen und Waldgeistern Die Figuren sind von großem Zauber, aber noch recht passiv. So versprachen sie denn auch, für die neue Saison eine Dramaturgie zu entwerfen, denn das Echo auf die Kreaturen war durchweg positiv. (www.italento.it)

    Nur wer das Talent hat, Figuren zu schaffen, die im Unterbewusstsein wühlen, kann auf Handlung verzichten. Das tun die Tonwesen von Le Diable par la Queue, die in einer gigantischen Seifenblase durch die Straßen rollen. Glatt, feucht und glitschig, die Köpfe übergroß und pilzförmig. Aber wir können allein ihre durchsichtige Sphäre berühren. Von dem nassen Ton, aus dem ihre Körper zu bestehen scheinen, ernähren sie sich auch noch. Ein Meisterwerk, denn wer träumt nicht von der Rückkehr in einen Urzustand? Ständig begreifen sie sich, klettern und gleiten aufeinander. Getrieben von ihrer Neugier können sie recht schnell die Stadt durchqueren. (http://www.lediableparlaqueue.com)

    Selbst im Morgengrauen war in Aurillac Paradezeit. Die Kompanie Oposito ließ den Stier los, mit Feuer und Flamenco. „Toro“ heißt ihr Ballett, zu dem sie mit Trommeln und mystischen Steckenpferden antreten. Auf die Metallgestelle montieren sie Hörner, die aussehen wie stählerne Croissants. In dieser spanisch-mexikanisch inspirierten Prozession flirtet man mit Tod, Weihrauch, Rock und Flamenco. Es ist eine manchmal gespenstische Corrida mit großem Finale. Oposito erinnern uns daran, dass Straßenkunst auch Sache des Klerus ist und der öffentliche Raum in anderen Kulturen mit Ritualen wie Stierhatz noch Teil lebendiger sozialer Kultur und mystischen Volksguts, wo mitunter der Mensch die Totenmaske aufsetzt und in den Spiegel des Jenseits blickt. Nur dann lebt das Leben richtig auf. Ein gigantischer Stier und eine königliche Sänfte sind mit von der Parade. Ein derartiges Ereignis rührt an viel tiefere Schichten des Bewusstseins als die Kommerzkultur von Halloween. Kein Wunder, dass pünktlich zu „Toro“ sogar der Dauerregen in Aurillac aussetzte. (http://www.oposito.fr)

    Sehr mobil sind auch die Performer des Kollektivs Ornic’art aus Marseille. Das ganze Jahr über verüben sie dort, was sie als „performance-commando“ bezeichnen. Es sind überfallartige Performance-Attacken, wie dadaistische Straßensperren, Aktionen im Bahnhof oder gar im Zug und ähnlich unvorhersehbare Späße. Zum Beispiel sich im Fast-Food-Restaurant verabreden, einen Hamburger essen, ausspucken und spastische Anfälle simulieren. In Aurillac aber belegten sie den größten Platz des Festivals für eine ihrer pseudo-wissenschaftlichen Großaktionen. Es galt festzustellen ob das Scheuern des Platzes mit Schmierseife zu vermehrten Leibeshandlungen führt. Die Zuschauer werden eingebunden. Vier Freiwillige suchen sich im Publikum einen Partner und beobachten die Wasserschlacht aus vier weißen Säcken heraus. Die Akteure improvisieren eine choreografische Rutschpartie in Neoprenanzügen. An ihre Knie und Ellbögen haben sie Seife und Bürsten geschnallt. „Place nette“ will vor allem klar machen: Wir lieben uns nicht mehr genug! Sie werden das nicht ändern, aber wir lassen uns gerne von ihnen „einseifen“. „Place nette“ ist Performance in Reinkultur: fremdartig, verstörend, unvergesslich. (http://documentsdartistes.org/artistes/bouvier-laribi)

    So sehr Ornic’art sich am Boden reiben, so radikal und elegant gehen die Spanier von Grupo Puja! in die Luft. Ihr „K@osmos“ war der Höhepunkt des Festivals, nicht nur, weil das Spektakel an einer Kugel aus Rohren im Himmel stattfindet. Die Choreografie der Astronauten in Weiß besticht durch Poesie, Kraft, Einfachheit, Schönheit, Eleganz, Spiritualität, Zeitlosigkeit und Futurismus. Nur die Milchstraße selbst ist schöner. Wer’s nicht glaubt, dem sei gewünscht, es eines Tages sehen zu können. (www.fansbrood.com)

    Zurück zur Erde: Theater rue pietonne gelang es immer wieder, an der kleinsten Straßenecke eine Handvoll Neugieriger mit Origami zu verzaubern. Da fällt man auf die ursprünglichste Stufe des Erstaunens zurück, auf eine intime Beziehung zum Material. „Origastelet“ ist die fernöstlich leichte Version der Schaubude oder des orientalischen Erzählers („der macht das wirklich für mich allein“). (http://theaterruepietonne.free.fr)

    Ist also alles in Butter? Es gab auch so konsternierende Darbietungen wie die KZ-Allegorie des Teatr Strefa Ciszy aus Poznan. Ein Wachturm in der Mitte, Wärter, die das Publikum drangsalieren und anschreien, Lagerbetten, auf denen einige Zuschauer Platz nehmen. Die müssen infantile Spiele über sich ergehen lassen. Es ist halt so, dass dumme Dramaturgie die Dummheit von Nazis nicht in Erleuchtung verwandelt, sondern in Frust. Da geht der Zuschauer noch ratloser raus als er reinkam. (www.strefaciszy.info.poznan.pl)

    Vielleicht sollten sie mal in die Lehre gehen. In Marseille stellte La FAI-AR den ersten Jahrgang ihrer „Azubis“ vor. Die erste gezielte Ausbildung in Sachen Straßenkunst offerierte zum Schluss jedem ein kleines Budget, um eine Kreation zu skizzieren. Da stellte sich heraus, dass auch ein Austausch mit gestandenen Tutoren nicht dazu führt, den öffentlichen Raum wieder ins Zentrum zu rücken. Nicht eine Parade wurde entwickelt. Das wäre auch zu einfach. Hier geht es um neue Ideen. Und die sind dann mal mehr, mal weniger überzeugend. Es sind ja auch nur Versuche, aber sie kommen zur Aufführung. Bemerkenswert ist die Offenheit einer „Ausbildung auf Wanderschaft“, die achtzehn Monate dauert, von denen aber nur vier in Marseille stattfinden. Das Hospitieren führte bis nach Barcelona. Letztendlich ist es egal, welches Etikett ein Künstler hier trägt. Es waren auch Leute aus Theater und moderner Kunst dabei, und gerade deren Konzepte waren mit die überzeugendsten. Die Ausbildung steht Künstlern aller Sparten aus allen Ländern offen, wenn sie des Französischen einigermaßen mächtig sind. Die zweite Runde startet im Oktober, und Bewerbungsunterlagen müssen bei der FAI-AR angefordert und bis Ende März eingereicht werden. (www.faiar.org)

    Redaktion: Thomas Hahn

    AdNr:1069   

    2007-03-15 | Nr. 54 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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