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    Die wilden Schatten der Diktatur

     
    „Ja, so ist das! Die Argentinier sind konzeptuell und die Chilenen hauen auf den Putz“, amüsiert sich ein Lateinamerika-Kenner, als ich ihm von La Patriotica Interesante aus Santiago de Chile erzähle, die im offiziellen Programm des letzten Festival d’Aurillac für die robuste Gangart zuständig waren. Ihr Aufschrei namens „Kadogo Niño Soldado“ ist Kindern gewidmet, die in Afrika als Söldner alle Menschlichkeit vergessen, oder in den Ghettos der Großstädte in Banden Halt suchen. Sie wollen sich den Traum von Rolex, Macht und Sex erfüllen und brüsten sich auf dem Dach eines Autowracks mit der Bazooka, spielen Rapper oder Hubschrauber. Aber die innere Realität sieht ganz anders aus. Wie in Panik hetzen sie über den Beton. Am Ende spucken sie Blut, und selbst die aufgespießten Plüschbären können ihnen keinen Trost spenden. „Kadogo“ ist ein Heavy-Metal-Konzert mit Kamikazetheater und Politikerschelte, ein Wutanfall, gerannt und gelärmt zwischen Müllbergen und brennenden Barrikaden. Aber auch die Kriegsreporter bekommen ihr Fett weg. Stört es, dass die Sturmtruppe zum Thema eigentlich nichts zu sagen hat? Irgendwie schon. Allein ihre Abrechnung mit dem Zynismus der, ach ja, natürlich rein chilenischen Politiker verrät einen Hauch von Analyse. Ansonsten funktioniert das Stück genauso sensationsgeil wie die Realität, die sie darin anklagen. Aber ihre ungeheure Energie beeindruckt. Die geballte Feuerkraft aus Musik, Hektik und Bazooka ist nichts für schwache Nerven. Die drei Musiker oder Götter in ihren Uniformen erinnern stark an den Stil von Mauricio Celedon, dessen Teatro del Silencio mit dazu beitrug, dass auch jüngere chilenische Kompanien gerne mal auf den Putz hauen und dabei handwerklich sogar eine gewisse Klasse beweisen. Wer sie sah, wird sie so schnell nicht vergessen. Aber auch im Off von Aurillac traf man auf Chilenen, und auch die hantierten mit Mülltüten, trugen bizarre Uniformen, gingen auf das Publikum los, spielten Krieg und Folter. Es waren aber zwei Clowns, oder Soldaten, oder Gefängniswärter, die nur das alte Spiel der Provokation wieder aufleben ließen. Das Duo nennt sich schlicht Teatro Gestual. Natürlich bedrohen Murmuyo und Metralleta die Zuschauer nur zum Spaß und setzen sich eine Pappnase auf ihre todesweiß getünchten Schädel. Wenn man sich nur einen Moment lang daran erinnert, dass Chile vor fast vierzig Jahren unter amerikanischen Bomben seinen 11. September erlebte, dann stellt sich ein gewisser Schauder ein. Und La Patriotica Interesante haben in ihre Pressemappe Zeitungsartikel aus Frankreich geklebt, die klar anführen, wo sie dort bereits auftraten: Place Salvador Allende. Ein Zufall? (www.lapatrioticainteresante.cl)

    Jüngere Generationen in Chile sollen ja heute Pinochet für einen verstorbenen Fußballstar halten. Auch das bringt dort die Theaterleute auf die Palme. In dieser Beziehung können sie den Polen die Hand reichen. Denn auch in diesem Land spielt Straßentheater immer wieder mit Aggression, Gewalt und Diktatur. Wenn Teatr Biuro Podrozy eine Körpertheaterfassung von Macbeth kreieren, wird es düster wie nur selten bei Shakespeare. Regisseur Pawel Szkotak macht einen wahren Kriegsfilm aus dem Stück, und in welcher Zeit der spielt, das kann man sich ja denken. Weder den Uniformen noch den Motorrädern oder den Waffen ist genau anzusehen, welche Armee dort für welchen Diktator am Werk ist, aber man muss schon stark an die Nazis denken. Da nicht gesprochen wird, besteht keine Gefahr, dass der Realismus mancher Szenen das (Alb-)Traumhafte abwürgt. Aus den drei Hexen macht Szkotak furchterregende Nonnen auf Stelzen, die direkt aus der Unterwelt kommen. Doch selbst in den Details steckt die ganze Kraft der Tragödie (www.tbp.org).

    La Patriotica Interesante arbeiteten übrigens mit den Franzosen von Générik Vapeur, und die wiederum stürmten 2009 das nächtliche Aurillac zusammen mit den Pyrotechnikern von Xarxa Teatre aus Barcelona. Das Ergebnis nennen sie „G 178“. Es ist eine jener Paraden, die mit Feuer und Kostümen eine Art Mittelalter oder Renaissance evozieren, als der Ritus noch das Leben der Gemeinschaft bestimmte. Das strahlt mythische Wärme aus. Doch was in „G 178“ (eine Anspielung auf den G8-Gipfel?) brennt, ist das Euro-Symbol. Am Theater von Aurillac hatten sie ein Gerüst aufgestellt. Auf dem spielten sie epische Szenen vom Schlachten und Ausnehmen, vom Verführen und Versteigern. Und an dieser brechtschen Atmosphäre konnte sogar das ganze Publikum teilhaben, von dem sonst der größte Teil den Umzug nur mit dem Fernglas verfolgen konnte, denn die Gassen der Altstadt waren für diesen Aufmarsch allzu eng. Da bleibt nur das Vergnügen, mit der Menge mitzulaufen, als wäre es eine Demo. Nach dem Finale mit reichlich Funken, Explosionen und erneutem Zündeln am €-Symbol fällt auf, dass Générik Vapeur schon seit einiger Zeit in ihren Kreationen die Ikonen des Kapitalismus unterwandern. „En Campagne“, ihre intelligente Satire auf den Wahlkampf, auch eine spektakuläre Parade, wurde deshalb kaum einmal gespielt. Es ist ein Jammer. Besser geht es „Jamais 203“, offiziell der Tour de France gewidmet. Da nehmen sie im Retro-Stil den Mythos Radsport auseinander, lassen die Teilnehmer im Endspurt auf einem Autotransporter ins Ziel kriechen oder gehen am Kran in einer Kugel aus verschweißten Fahrradrahmen in die Luft. Ein wenig Demo gegen die Diktatur des Geldes ist auch hier dabei. So scheint sich in „Jamais 203“ und „G 178“ auch der Frust darüber auszudrücken, dass „En Campagne“, wohl wegen seiner offenen politischen Kritik, kaum programmiert wurde. Dabei war es künstlerisch klar das beste Stück, weil dort alle Symbole politischer, finanzieller und symbolischer Macht in prägnanten und klaren Bildern mit viel Esprit demontiert werden. Kein Wunder, dass nun in „G 178“ der Euro brennt (www.generikvapeur.com).

    Umso unverständlicher ist der Boykott von „En Campagne“, als Générik Vapeur sogar ihren Klassiker „Les Champêtres“ weiter aufführen, in dem eine Truppe Landpolizisten aus dem 19. Jahrhundert auf ihren Drahteseln durch die Stadt fährt und versucht, Ordnung zu schaffen. Gerne legen sie sich dabei mit den Bürgern an, bringen sie zum singen oder kontrollieren auf einer Kreuzung Autos und deren Insassen. Die Ordnungshüter als Chaostruppe sind eine Gaudi. Aber es stimmt, sie stifteten, wie schon vor zwei Jahren mit „En Campagne“, ihren Aufruhr auf dem Festival Furies in Châlons-en-Champagne, wo Jean-Marie Songy sich stark genug fühlt, auch provokante Kritik einzuladen (www.festival-furies.com).

    Ein provokanter Akt im öffentlichen Raum ist auch die neue Parade von KompleXKapharnaüM. Wie zuvor spielen sie mit den Fassaden, aber ihr Zugriff wird konkreter. Bisher waren es Videoprojektionen, jetzt kleben sie Plakate. Und auf denen liest man Appelle an Verantwortung und Demokratieverständnis. Doch ihr „Memento“ versumpft nicht etwa in plumpen, didaktischen Ansprachen, sondern hinterlässt an den Wänden und Mauern einer Stadt historische Dokumente und Texte von hoher poetischer Qualität. „Die Intelligenz auf den Weg bringen, und das ohne Generalstabskarte“, lautet eine Schlagzeile, oder: „Wer ich bin – ich bin meine Geschichte“. Frankreichs Kolonialkrieg in Algerien ist der rote Faden von „Memento“, und deren Folterknechte gingen bekanntlich bei den Nazis in die Schule. Da geht man am Tag nach dem Festival den Weg noch einmal ab und verfolgt, wie die Stadt auf die Präsenz der Kollagen reagiert. Manche bleiben lange unversehrt, andere werden zerpflückt, besonders, wenn sie an Kirchenmauern kleben. Aber es bleibt unklar, ob Ordnungshüter oder Souvenirjäger am Werk waren. Klar ist: Bei KompleXKapharnaüM sind die Mauern nicht nur Dekorum, sondern Bedingung für das Happening. Die anderen nächtlichen Paraden drehen sich dagegen nur um sich selbst und ihre Flammen (www.komplex-kapharnaum.net).

    Atemlos geht es weiter. Die Compagnie Internationale Alligator spielt in „1789 secondes“ die Französische Revolution nach, in mehr oder weniger historischen Kostümen. Das riecht nach dem heimlichen Wunsch, das Volk möge es mal wieder probieren. Der Hofstaat darf reichlich bepöbelt werden, das Publikum identifiziert sich mit den Revolutionären. Fassaden und Fenster der Straßen werden bespielt, wie bei einem Zusammenschnitt der Ereignisse für ein heutiges TV-Format. 1.789 Sekunden, das sind ziemlich glatt dreißig Minuten, die Werbepausen mit verrechnet. So werden Parallelen zwischen damals und heute in Frankreichs Politik hervorgehoben. Selten vermischten sich Akteure und Publikum auf so natürliche, aktive Weise. Da kann man glatt den Personen die Replik geben, sie beschimpfen oder sonst wie am Geschehen teilhaben. Wie KompleXKapharnaüM geht es C.I.A. darum, aufzurütteln gegen das Vergessen republikanischer Tugenden, gegen die Diktatur der Medien (www.cia-alligator.com).

    Und dann kommt Caroline Amoros alias Princesse Peluche und macht ihre Revolution in Orange. Wie immer ist sie Performerin und Sprayerin, wie immer mit abwaschbarer Farbe und nur auf der Fahrbahn. Aber schon das ging einem populistischen Bürgermeister in Südfrankreich gegen den Strich und er verklagte „Madame Lejaune“. Darum ist sie jetzt „Miss O’Range“ und wird vielleicht bald rot vor Wut. Vor einem Supermarkt in Aurillac grillte sie Barbiepuppen, ließ orangefarbene Limonade sprudeln, teerte Orangen und zerfetzte sie mit dem Golfschläger oder knallte eine Puppe mit der Paintgun ab. Auf dem Parkplatz legte sie ein Hakenkreuz aus weißen Rosen aus. Auf der Kreuzung blockierte sie den Verkehr, indem sie den Autos aufblasbare Krokodile in den Weg legte. Ist sie eine Populistin? Ganz und gar nicht! Amoros seziert die Diktatur der Konsumgesellschaft, den Rassismus oder den Militarismus mit Metaphern, die so eindringlich wie gradlinig sind. Was die meisten Menschen im Alltag unbewusst bedrückt, fasst sie in messerscharfe Bilder. Das ist von unschätzbarem Wert (www.princesses-peluches.com).

    Redaktion: Thomas Hahn

    2009-12-15 | Nr. 65 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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