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    Man öffnet mal die Büchse und schaut was rauskommt...

    Über die Bedeutung von Offenheit und Neugier in der Arbeit von und mit Artisten

    Es gibt keine Zufälle! Der Sommer ist vorbei, der Kopf noch voller Erinnerungen an die Erlebnisse und Begegnungen der Sommertournee und schon wieder voller Pläne für die Zukunft und dann steht da dieses Datum: Redaktionsschluß TROTTOIR. Knallharte Realität, unverrückbar, ein Datum halt, eine Deadline, ein Punkt.

    Nun ist dies ja nicht der erste Redaktionsschluß den ich erlebe und ich habe ja auch schon einige Premieren hinter mich bringen dürfen, aber das Phänomen ist doch immer das Gleiche: Ein gesetztes Ziel und die Offenheit für die Entstehung eines Werkes wollen sich nicht vertragen, das Ziel drängelt und die Offenheit will sich schüchtern verdrücken. Was zu bleiben droht ist angstvolles Rudern im Leeren und die Frage warum man sich das eigentlich immer antut.

    Nun hat ja die Erfahrung gezeigt, das da nur vertrauensvolles Weitergehn hilft, gepaart mit der Offenheit für den Moment und dem Horchen auf die innere Stimme, die im richtigen Augenblick sagt: „Da isses!“. Und siehe da, kurz vor Redaktionsschluß berscherte mir diese Übung zwei höchst interessante Begegnungen mit drei Künstlern, und wie sollte das verbindende Thema dieser Gespräche anders sein: Die Offenheit in der kreativen Arbeit, die damit verbundenen Ängste und Widerstände und die wertvollen weil authentischen Ergebnisse, wenn man sie trotzdem wagt. Es gibt keine Zufälle!

    Anfangen möchte ich mit der Begegnung mit Samuel Jornot. Er weilte als Juror im Rahmen des Bitburger-Nachwuchsfestivals im Varieté Chamäleon in Berlin. Nach einem kurzen Ausflug in die Themen WAS-WANN-WO (Er kommt aus der Schweiz, lebt in Frankreich, studierte in den 70ern bei Lecoq und Decroux, arbeitete als Zirkusartist, unterrichtete an der Zirkusschule in Châlons en Champagne, choreographierte für Cirque de Soleil, seit 1996 freiberuflicher Regisseur, Choreograph und Lehrer) drehte sich unser Gespräch bald um die Frage der Ausbildung und kreativen Arbeit mit und für Artisten.

    S. J.: „Ich unterrichte im Sinn von ‚Techniken entwickeln mit Artisten‘ aber immer gleichzeitig im Zusammenhang mit dem Entwickeln von einem Stück oder einer Nummer. Es macht keinen Sinn, Technik unabhängig von einem Ausdruck zu entwickeln. Das kann gleichzeitig passieren! Normalerweise übt man zuerst Technik, dann baut man Tricks zusammen und versucht eine möglichst originelle Nummer daraus zu machen. Aber ich bin der Meinung man kann das von Anfang an gleichzeitig erarbeiten. Das eine beeinflusst das Andere. Dann ist keine Nummer wie die andere, weil sie der Person entspricht. ... Wenn Du so arbeitest gibt es natürlich nie eine Garantie, du kannst nicht vorbereitet hingehen. Ich gehe ohne mich vorzubereiten dahin, obwohl ich die Tendenz habe mich vorzubereiten - das widerspricht sich aber wenn ich mich vorbereite ist meine Stärke eingeschränkt, wenn ich mich nicht vorbereite ist da die Angst: ‚Was ist, wenn sich nichts entwickelt!‘.“

    P.S.: „Hast Du denn je die Erfahrung gemacht, dass sich nichts entwickelt?“

    S.J.: (stutzt) „Nee!“ (lacht) „noch nicht - aber die Angst ist schon immmer da. ... Natürlich kann ich mich vorbereiten, aber mehr organisatorisch. Aber kann ich nicht schon eine Dramaturgie entwickeln oder Szenarien ausdenken. Ich würde sicher schwächer dadurch, weil ich muß mich auch erst beeinflußen lassen muß - irgendwas tritt dann eine Lawine los. Das kann eine Bewegung sein, eine Haltung oder ein Wort. ... Das Herangehen ohne eine Vorentscheidung: ‚Das soll herauskommen!‘ ist vor Allem das Interessante. Man öffnet mal die Büchse und schaut was rauskommt.“

    Eine solche Offenheit steht bei Samuel Jornot auf einem stabilen Fundament gesammelter Erfahrungen. Und genau dies nutzt er auch beim Vermitteln artistischer Techniken. Er läßt seine Schüler über das schrittweise Sammeln von Körpererfahrungen die Tricks und Techniken selber entdecken. So werden sie zu eigenen Tricks mit einem eigenen Ausdruck und der Möglichkeit frei und kreativ damit umzugehen. Eine gute Technik ist in jedem Fall die Basis, aber der Weg dorthin ist von Anfang an von Kreativität begleitet.

    S.J.: „Man kann eine Art Metatechnik entwickeln, d.h. durch Beobachtung des Körpers und des Ausdrucks kannst du ganz viel über die Technik erlernen. Wenn Du nicht ein Bild hast, wo es hinführen soll sondern schaust: ‚Was ist da und wie geht die Bewegung?‘, dann kannst du sehr viel über die Technik lernen und Hilfestellung geben, egal welche Technik es ist.“

    Diese Fähigkeit der Wahrnehmung ist wohl die Tür um Artisten auf ihrem Weg zur eigenen Kreation zu begleiten.

    Einen freien und spielerischen Umgang mit ihrer Disziplin entdeckt seit ca. 2 Jahren auch die Zunft der Jongleure. Improvisation oder im Fachjargon ausgedrückt „Jonglierjamen“ ist eine solcher Weg. Mit Stefan Sing und Phillip Meyerhöfer lernte ich zwei Artisten kennen, die sich mit dieser Form intensiv auseinandersetzen und sie auf ein hohes Level entwickelt haben. So ist das Jamen auch ein fester Bestandteil ihrer neuen 40-minütigen Show.

    Als ich die Beiden beim Training besuchte, erwartete und überraschte mich eine energievolle Mischung aus Tanz, Bewegungstheater und Jonglage – improvisiert. Der Rahmen ist klar: ‚Zwei Jongleure mit insgesamt 5 Bällen improvisieren miteinander.‘

    Ziel ist auch hier nicht die Zurschaustellung von technischem Können, sondern der spielerische Umgang mit dem Moment auf technisch hohem Niveau. Und interessant ist, was sowohl auf der Bühne als auch beim Zuschauer passiert.

    Die Jongleure werden zu Spielern die alle Register ihres individuellen Ausdrucks nutzen, sei es Tanz, (Schau-)spiel, Sprache und natürlich Jonglage. Der Trick verwandelt sich zum Spiel und der Drop (ansonsten ein unwillkommener, lästiger Gast, zumeist als ‚Fehler‘ eingeordnet) wird gleichberechtigter Spielimpuls. Und auch der Blick des Zuschauers wandelt sich. Bilder werden sichtbar, Momente von Emotionalität huschen über die Bühne, die Freude am Spiel schwappt über und ersetzt das Betrachten von Können.

    Mit dem Schritt in die Welt der Improvisation öffnen sich ganz neue Möglichkeiten und schon sorgt diese Arbeit für bemerkenswerte Entwicklungen. Auf der letzten Jonglierconvention in Rom vermittelten die Beiden in einem Workshop ihre Arbeit. Nach anfänglicher Irritation und Skepsis schwappte plötzlich ein Welle kreativer Energie durch die Halle. Es war offensichtlich mehr als eine neue Idee sondern es war die Freude an der Entdeckung der spielerischen Freiheit im Jonglieren, die die TeilnehmerInnen packte und ausprobieren ließ, dass die Halle brummte.

    Im Gespräch legen Stefan Sing und Phillip Meyerhöfer dar, dass diese Arbeit natürlich eine gute Technik erfordert. Zur Improvisation gehört darüber hinaus aber die Fähigkeit achtsam und offen im Moment zu sein. Und so ist es auch möglich das Anfänger und Fortgeschrittene miteinander improvisieren und darüber völlig neues Material entdecken und entwickeln können.

    Den Körper daran zu gewöhnen nicht panisch zu agieren, sondern gelassen auf Impulse zu reagieren nimmt in den Jaming-Workshops von Stefan Sing und Phillip Meyerhöfer viel Raum ein. Und auch hier wieder die Erkenntnis, dass es sinnvoll ist die Vermittlung von Technik gleichzeitig mit der Förderung von Ausdruck, Spiel, Kreativität stattfinden zu lassen.

    Es gibt keine Zufälle, das Risiko der Offenheit bringt reichlich Nahrung für die Kreation und natürlich gibt es im Vorfeld die beängstigende Phase der Unsicherheit: „Was ist wenn sich nichts entwickelt?“

    Das geht dem Regisseur so, den improvisierenden Jongleuren und auch dem Autor dieses Artikels. Der hat nun nur noch das Problem, noch gerade so den Redaktionsschluss einzuhalten und seinen Chefredakteur davon zu überzeugen, dass es ihm wirklich leid tut, die geforderten 5000 Zeichen schamlos um 3000 Zeichen überschritten zu haben und dass es in den Gesprächsaufzeichnungen eigentlich noch viele erwähnenswerte Details gäbe.

     

     

    Info:

    Anfang 2004 wird es in den Jonglierkatakomben in Berlin einen Workshop mit Stefan Sing und Phillip Meyerhöfer zum Thema Jamen geben. Interessenten können unter www.jonglierkatakomben.de Infos abfragen.

    Ebenfalls Anfang 2004 in Berlin: Workshops zum Thema Spiel – Präsenz – Ausdruck mit Philipp Schaefer (Autor des Artikels). Infos können unter philipp-c-schaefer@t-online.de erfragt werden.

    Die Kombination aus Tanz und Akrobatik vermittelt Klaus Borkens, Infos unter www.Artistik-Dance.de

    2003-12-15 | Nr. 41 |





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