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    Mimos am Scheideweg

    Mimos sucht einen neuen Weg. Im ersten Jahr nach der Ablösung von Peter Bu präsentierte sich das Festival international du mime moderne künstlerisch heterogener als gewohnt. In dem von Etienne Bonduelle eher kurzfristig gezimmerten Programm gab es afrikanischen Tanz, wirbelnde Derwische, Puppen- und Figurentheater. Und natürlich die für Mimos typische visuelle Körperkunst. Im Grunde hielten sich die Kompanien im Off strenger an das Konzept als das In. Ein bemerkenswerter Erfolg der Programmpolitik und des Festivalmanagements der letzten Jahre. Was also bot Mimos im Jahr des Übergangs? Auffallend vieles aus Spanien. So wie die Affenmenschen von Primigenio die als fiktives evolutionäres Bindeglied zwischen Primat (die Köpfe) und Homo Sapiens (die Arbeitskittel und Krawatten) äffische Laute ausstoßen. Wo sie auftauchen, stockt der normale Betrieb. Auslagen der Geschäfte gehen auf Wanderschaft, Caféstühle landen in Lieferwagen. Das Affenquartett ist unberechenbar, Heiterkeit ist garantiert. Das Prinzip ist so alt wie das Straßentheater, aber Primigenio gehen wirklich hart an die Grenze der Störungen, die Geschäftsinhaber selbst Primaten zugestehen.

    Wie Primigenio kommt auch die Italienerin Simona Levi aus Barcelona mit ihrer „7 Dust Show.“ Ein schrilles, groteskes Cabaret, weniger politisiert als die vorige Kreation, Femina ex Machina, aber noch immer unverkennbar katalanische Frauenpower. Ihre Kompanie Conservas bleibt provokant und bricht Tabus. Selbst im Publikum von Mimos finden sich Festivalgänger aus Barcelona, die hier endlich sehen, was alles in ihrer Stadt kreiert wird.

    Tro-Héol sind mehrheitlich Spanier, die in Paris leben und dort ihre spanische Kompanie gründeten. „La Mano“ (Die Hand) ist ihre exzellente Bearbeitung für Puppenspiel einer Geschichte, in der Chirurgen dem armen Roberto einen neue Hand annähen. Diese lebendige Prothese führt aber ihr Eigenleben. Sie provoziert Roberto, der in einen paranormalen Konflikt gerät. Eine schöne Metapher der Persönlichkeitsspaltung. Die Grenzen zwischen Realität und kafkaeskem Alptraum verschwimmen zusehends. Am Schluss wird La Mano hand-greiflich, erwürgt Roberto, tötet damit aber auch sich selbst. Puppenspiel und die Beleuchtung der kleinen Bühne sind äußerst raffiniert.

    Wer hätte erwartet, auf Mimos statt Butoh nun wirbelnde Derwische zu sehen, und dazu aus Ägypten? Eher Vorführung als Ritual ist El Nil, eine farbenfrohe Alternative zu den in asketisch weißen Röcken wirbelnden Klosterbrüdern aus Syrien oder der Türkei. Allein, das Trio aus Kairo drehte mit angezogener Handbremse. El Nil tanzt im Auftrag der Regierung als offizieller Kulturexport. Das Wirbeln ist in Kairo längst ein Volkssport, versichern sie uns.

    Butoh gab es aber doch auf Mimos, und zwar im Off. Wie im Vorjahr verblüffte Yukiko Nakamura mit ihrer mysteriösen Ausstrahlung und unvorhersehbaren Auftritten, ob im Sand oder im Café wo sie gleichzeitig im Stuhl sitzt und sich unter dem Tisch hindurch windet. Als gälten die physikalischen Gesetze dieser Welt nicht für sie. Allerdings bekam Nakamura in diesem Jahr hochkarätige Konkurrenz, direkt aus Japan. Nanami KohshouPhilippe Rives inszeniert eher ein Martyrium des Körpers, balanciert zitternd und bebend auf einem Brunnenrand oder entsteigt dem Boden aus Sand und Stein. Ein Beispiel seiner Wirkung: Als zwei Streithähne um die Ecke bogen und gerade anfangen wollten, sich zu prügeln, entdeckten sie Nanami, waren beide gleichermaßen berührt, machten auf dem Absatz kehrt und gingen wie zwei Freunde. Welch eine Szene! Können auch Europäer Butoh machen? ist Franzose und leitet – in Berlin! – die BK Cie. In „Evo“ beginnt er, den Körper ganz in weiß bemalt, in fötaler Position am Boden liegend. Etwa 45 Minuten später steht er aufrecht. So langsam und gleichmäßig ist sein Bewegungsfluss, dass er es voll mit den Japanern aufnehmen kann. Kein westlicher Performance-Akt ähnt Butoh so wie Evo. Dennoch findet hier eher das Gegenteil statt. Scheinen Nakamura und Nanami ihrer fleischlichen Hülle zu entschlüpfen und reinen Geist erfahrbar zu machen, so verwandelt sich Rives in reine Materie, die sich ohne Seele zu bewegen scheint. Beeindruckend ist das genauso sehr. BK Cie hat eine ganze Reihe subtiler Körper-Performances im Programm. Und was für ein grandioses Festival gäbe das, würden an allen Plätzen, in allen Parks, solche Performer die Stadt in eine lebendige Galerie verwandeln.

    Immer wieder bietet das Centre Culturel Bertin Poirée in Paris das Beste aus Frankreichs sehr kreativer, vielfältiger Butoh-Szene. So Masaki Iwana. In seinem neuen Solo “Flotter sur la crête d’un coeur indéci“ sielt er mit Nijinskys Faun-Motiv und lässt seinen nackten Körper absolut weiblich erscheinen. Elegant, transzendent, torkelnd, schwebend. Ein Meisterwerk. Andere in Frankreich lebende Butoh-Größen im 4. Festival de la danse Butô waren Gyohei Zaitsu, der mit seinem ebenfalls asketisch-humoristischen Stil in die Fußstapfen Iwanas tritt und seinen sehnigen Körper ebenso feminin erscheinen lässt. Sumako Koseki, die Butoh mit zeitgenössischem Tanz vermischt. Yumi Fujitani tritt mit ihrer beunruhigenden Präsenz auch im Sprechtheater auf. In „Un Rêve de papillon“ geht sie über Verwandlung hinaus, ist gleichzeitig Braut, Vogel und Schmetterling. Die transzendentalste Magierin des Körpers.

    Und die Musik? Paris ist Piaf, ist Tango, ist Afrika. Piaf-Hommagen gibt es zur Zeit reichlich, herausheben sollte man die innovative, erfrischende Arbeit von Kaleïdo Compagnie. Pathos und Nostalgie verleugnen sie nicht, doch fast alle Piaf-Hits werden tatsächlich aufgebrochen wie in einem Kaleidoskop. Sowohl zwischen den fünf Sängern/Schauspielern als auch zwischen Arrangements, die von Jazz und Bossa Nova beeinflusst sind. Ob Solo, Duo oder im Chor – der ständige Wechsel macht aus „PIAF - L’Ombre de la rue“ ein Gesamtwerk aus Musik, Gesang, Schauspiel und Choreografie, das selbst Touristen begeisterte: innovativ und doch „so French“, da zum bersten voll mit Emotion. 

    Eine neue Stimme im Tango, die auch schon in Deutschland auf Tournee war, ist Sandra Rumolino. Anstatt die x-te Schmachtversion der Klassiker aufzulegen, kreiert sie einen Tango-Stil des 21. Jahrhunderts. Selbst Standards wie „Nostalgias“ (!) klingen hier, als seien sie heute komponiert worden. Rumolinos Stimme kommt weder schmalzig noch stampfend daher, sondern festen, konzentrierten Schrittes, steht in ständigem Dialog mit sich selbst. Mit ihr und den sensationellen Arrangements von Gerardo J. Le Cam hört man sich von Ton zu Ton, wie in einer Galerie wo jedes Bild neues Erstaunen auslöst. Nie verleugnet die Pariserin argentinischer Herkunft das Pathos ihrer Väter. Doch ihre Stimme steht in ständigem Dialog mit sich selbst und findet eine perfekte Symbiose aus Sinnlichkeit und Recherche, Rumolinos neue CD „Por la Vuelta“ (Arion 528546) ist nicht zum tanzen, sondern Ton-Kunst für Tango-Gourmets. Diese stilistische Revolution konnte wohl nur in Paris entstehen, bringt uns aber Buenos Aires näher als alle alten Schmachtfetzen.

    Zu einer Tango-VIP reift auch die Japanerin Anna Saeki, die in Paris ihre neue CD „Omoï“ aufnahm. Ein Konzeptalbum auf dem Alejandro Schwarz traditionelle Volksweisen aus Europa, Japan und den USA als Tangos arrangiert. Wiegenlieder, Klassiker wie Parlez-moi d’amour oder Volkslieder wie Greensleaves, den Gospel Amazing Grace oder die Loreley, im Spagat zwischen Tangoflair und Nippon. Wer wäre da nicht zunächst skeptisch? Doch das Album „Omoï“ (Der Wunsch) ist ein Meisterwerk. Extrem exotisch und vertraut zugleich. Auch dass die Musik von einem rein weiblichen Septett eingespielt wurde zeigt, dass Saeki nicht „nur“ eine der weltbesten Tangosängerinnen ist, sondern auch zu einer Triebfeder der Innovation werden kann. Jedes Jahr im Oktober tritt sie in Paris auf, zuletzt mit den Omoï-Musikerinnen, Las Malenas. Wann endlich in Deutschland?

    Paris ist natürlich auch eine Drehscheibe der afrikanischen Kultur.  Toups Bebey ist der Sohn des verstorbenen, sehr beliebten kamerunischen Liedermachers Francis Bebey. „Da konnte ich nicht wie er zur Gitarre greifen sondern musste meinen eigenen Weg suchen“, sagt Toups. Gleich drei Wege fand er, mixt afrikanisches Ambiente mit Jazz, Brass Band oder Techno. Seine Paris Africans an deren jüngster CD „Pygmy Attitudes“ wirkte auch Archie Shepp mit und Toups und die Band rocken im Geist der Pygmäen. Afro-karibisch wird es mit Toups Bebey & Le Spirit Pan-African Brass Company. Legt man die sehr humorvoll komponierte und gespielte CD „Mummy I Go For Town“ auf, wähnt man sich direkt im karibischen Straßentanz. Wie auf einem fliegenden Teppich schwebt man durch Bebeys sensationell subtile Afro-Techno, deren Grooves er unter dem Namen PACT ganz alleine kreiert und sampelt. „Cosmic Tones“ heißt diese exzellente Fusion.


    Redaktion: Thomas Hahn

    2003-12-15 | Nr. 41 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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