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    Strassenkampf


    In diesem Sommer über Strassentheater zu berichten, das bedeutet zuallererst, zu erklären warum Frankreichs Schauspieler, Tänzer, Musiker und Techniker ihre eigenen Produktionen bestreiken und Festivals lahm legen. Gerade die Strassentheaterszene ist in der Bewegung besonders aktiv.  Generalstreiks bei VivaCité in Sotteville les Rouen und Chalon dans la rue in Chalon sur Saone. Die da kämpfen nennt man Intermittents, d.h., Zeitarbeiter. Immerhin eine Art Berufsstatus, der erlaubt, Arbeitslosengeld auch dann zu beziehen, wenn man nur hin und wieder Arbeit findet. Bezahlte Arbeit wohlgemerkt, denn Proben werden in der Regel nicht bezahlt und die ständige Suche nach Engagements natürlich auch nicht. Die ist im Strassentheater, wo feste Kompanien bestehen, weniger notwendig, dafür fliesst viel Zeit in die Herstellung von Wagen und Accessoires. Trotzdem. Warum die Aufregung, wenn es hier, wie generell behauptet, nur um eine « Reform » der Arbeitslosenversicherung geht ? Wäre es nur das ! In Wahrheit ist das gesamte Gefüge der Kulturproduktion in Gefahr, ganz besonders im Strassentheater. Die « Reform » wird nicht nur kleine Kompanien in den Ruin treiben, sondern auch die Schwergewichte wie Transe Express, Kumulus und weitere, die sich womöglich in Sicherheit wähnen. Selbst Staatstheater zittern. Und das, weil eine Kommission aus Arbeitgeberverband und Gewerkschaften einen Vertrag ausgehandelt hat, der einen grossen Teil der Intermittents zwingen wird, bei McDonald’s zu jobben. Der lebendige Unterboden aus Kompanien aller Sparten würde ausgedünnt, Frankreichs Sonderstellung wäre dahin. Dominierende Sparten wie der neue Zirkus, das Strassentheater, den Hip Hop, die Performer, das Körpertheater, aber auch die Musikszene gäbe es ohne die Intermittents nicht. Natürlich wurde die Regelung missbraucht und das Defizit war hoch. Wenn auch nicht die immer ausgerufenen 800 Mio Euro, sondern in Wahrheit 250 Mio Euro. Doch gerade die Arbeitgeber in TV-Anstalten und Medienproduktion liessen sich die Hälfte der Gehälter vom Staat bezahlen. Allen voran das öffentlich-rechtliche TV ! Das perfide ist nun, dass die neue Regelung trotz aller Beteuerungen daran nichts ändern wird, sondern ausgerechnet die ärmsten der Künstler, für die die Kasse ja geschaffen wurde, hinaus kickt. Und in diesem Proletariat der Künste ist das Strassentheater besonders stark vertreten. Kein Wunder, dass die Kompanien mit der Wut der Verzweiflung reagieren. Die kleinen Truppen im Off traten in Kostümen vor das Publikum, spielten fünf Minuten oder gar nicht und begannen die Diskussion : Was sind (uns) Künstler Wert in dieser globalisierten Profitgesellschaft ? Streikende störten die Vorstellungen, z.B. von Royal de Luxe. Nach viel internem Streit über Streik oder nicht Streik traten die Kompanien dann von Chalon aus die Flucht nach vorne an. Die entschieden, die Stadt nach Ende des offiziellen Festivals « künstlerisch zu besetzen. » Trafen sich jeden Tag zu Umzügen, kollektivem Wutschrei vor dem Rathaus, wurden von sympathisierenden Bürgern verköstigt und bewirteten selbst die Bevölkerung in den Betonburgen am Stadtrand. Und sie spielten ihre Stücke. Würde der Bürgermeister sie etwa per Tränengas vertreiben lassen ? Er wagte es nicht. So ist er plötzlich neu geboren, der aufmüpfige, unberechenbare Revoluzzergeist des Strassentheaters. Das Feuer brennt wieder, die kreative Energie reisst Andere mit. Beinahe wäre sie von der Selbstzerfleischung erstickt worden. Nun bildet sich eine Front aus Strassentheater, Tanz- und Theaterkompanien, streikenden Lehrern und Anderen, in Erwartung des angekündigten Kahlschlages im Gesundheitswesen. Ein Zeitungsredakteur hatte es gleich zu Beginn erkannt : was hier in der Kunstszene entsteht, kann Frankreichs neoliberaler Regierung gefährlicher werden als klassische Proteste der Beamtenschaft. Das Festival d’Aurillac sollte ein weiterer Meilenstein der reifenden Bewegung werden. Leider erst nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe.

    Ins Bild passt auch, dass Kulturminsiter Jean-Jacques Aillagon angekündigt hat, 2004 ausgewählte Festivals mit dem Label « von nationalem Interesse » versehen wird. Was natürlich vor allem einen Vorwand liefern wird, den übrigen die Subventionen zu streichen. Man munkelt, dass im Strassentheater nur Aurillac berücksichtigt wird. Auch anderswo wird die Luft dünner. In Archangelsk musste im Juni die elfte Ausgabe des Festivals abgesagt werden – wegen SARS! Und trotz Petition. Der President Viktor Panov sorgt sich um den Fortbestand. Wir wünsche schnelle Genesung. In Zagreb ging es der Kompanie Cacahuète (Erdnuss) an den Kragen. Der Mob ging auf sie los, als sie ihr neues Stück „Market Platz“ aufführten. Schon wahr, sie nageln ein Schwein ans Kreuz aus weissen Kacheln. Sie mimten den Geschlechtsakt vor einer Kirche, am Tage des Papstbesuches. Als Agitatoren und Provokateure sind sie noch immer unschlagbar. Muss der empörte Katholik deshalb gleich versuchen, sie zu steinigen? Unter Polizeischutz konnten sie sich retten.

    Da geht fast unter, dass Chalon dans la rue sowieso vor dem Aus steht. Die Direktoren, das als « Pierre (Layac) & (Jacques) Quentin » bekannte Duo soll von der Stadtregierung im Handstreich ihres Festivals beraubt werden. Sie fielen aus allen Wolken, als sie eines Morgens in der Zeitung ein Stellenangebot für ihre Nachfolge fanden. „Man will uns los werden weil wir zu unbequem sind“ tönten sie und kündigten an, um das Copyright des von ihnen gegründeten Festivalkonzeptes prozessieren zu wollen. Während des Festivals würden sie eine bedeutende Erklärung abgeben. Als es so weit war blieben sie ganz still und solidarisierten sie sich äusserst zaghaft mit den Streikenden. Wollten sie sich eine eventuelle letzte Chance auf den Verbleib nicht verderben ? Es blieb ein schaler Beigeschmack. Die Kompanien hatten mehr Engagement erwartet.

    So wie sie es selbst zeigen, auch in ihren Kreationen. Ein Thema der Saison ist das Leid der Flüchtlinge, ein zweites, ihm verbundenes die Begegnung mit exotischen Völkern. Allen voran Kumulus mit « Itineraires sans fond(s) », den Reiserouten ohne Geld und ohne Ende. Ordner führen das Publikum auf ein brach liegendes Gelände, wo ein Flüchtlingslager entstanden ist. Ein fiktiver Ort, denn die Vertriebenen stammen aus diversen Epochen und Kulturen. Einer floh aus Tschernobyl, der Andere kommt aus dem Kosovo. Ein Jüdin entkam dem Warschauer Ghetto, und auch ein Afrikaner ist dabei. Der Zuschauer wandert nach Belieben zwischen Lagerfeuern und Matratzenlagern und lauscht den Geschichten. Sitzen kann er auf leeren Konservendosen. Später wandern auch die Flüchtlingsfiguren und kreuzen die Wege des Publikums. Spielen gar einige Szenen. In einer verstossen sie musikalisch eine Leidensgenossin, die das Pech hat Zigeunerin zu sein. Wie alle Strassentheaterkompanien setzen Kumulus hier auf die Kraft des Emotionalen Erlebens. Das könnte im Kitsch enden, wird aber mit genug Finesse gespielt um uns tatsächlich den Blick auf das persönliche Schicksal jener zu öffnen, die in Lagern wie Sangatte durchhalten, oder einfach in der U-Bahn. Sie sprechen uns auch direkt an, halten uns fest, flehen um einen Anruf per Handy beim verschollenen Freund. Ein Figaro erzählt von Vergewaltigungen in Bosnien. Und warum verstehen wir das alles ? Auch das ist eine couleur der Saison – man spricht mischmasch, erfindet Laute die wie Sprache klingen. Kumulus lassen jeweils italienisch, serbisch, deutsch oder eine afrikanische Sprache dominieren und streuen Schlüsselworte so, dass der Sinn ungefähr klar wird. Parallel zeigen sie eine beeindruckende Fotoausstellung über die Realität auf dem Balkan. Wracks und Ruinen, Tristesse und Hoffnung.

    Ein undefinierbares, germanisch-mongolisches (Wander-?)Volk spielen Délices Dada. Auf  einer Wiese, am besten unter Bäumen, ereignet sich ein Liebesdrama mit doppeltem Suizid nach dem Modell von Romeo und Julia. Dass die Verliebten sich nicht vereinen dürfen, ist hier kein Familienzwist, sondern entsteht aus einem Ritual das in Zwangsheirat eines hässlichen, ferkelhaften Gesellen mündet. Clans aus Männern und Frauen stehen sich gegenüber. Ihre (Körper-) Sprache gleicht der von Reihern oder Hühnern. Zuerst sieht « Indigènes » (Eingeborene) nach Arroganz gegenüber traditionellen, naturnahen Kulturen aus. Es ist aber Humor, der wohl tut, wenn auch die Geschichte Tränen treibt. Gleichzeitig sind sie Musiker und spielen eine Symphonie aus Musik auf Naturinstrumenten, ihrer Vogelsprache und ihren Bewegungen.

    Asien ist generell in Mode. Sogar bei den aus England stammenden Graall. Ihre Youcs, eine Art Kreuzung aus Yeti und Yak, d.h., vierhufige, beinahe aufrecht gehende zwei Meter hohe Fellberge mit Spitzmäulern stecken in den mehr oder weniger besten Kostümen des Strassentheaters seit langem. Geführt werden die drei Youcs von einem Hirten, der mit ihnen Zirkuskunststücke aufführt und mit dem Publikum spielt. Wie weit die Symbiose aus dem vertrauten Wesen Mensch und eigentlich widerwärtigen, gräulich fremdartigen Kreaturen gedeihen kann, ist die Botschaft dieser « Gesandten des Youclund. »

    Den Flüchtlingen widmen sich auch Métalovoice in « Fragiles » - zerbrechlich. Wie die Migranten und wie es auf Frachtkisten steht, die verschifft werden. Auf solchen Holzkisten stehen die Musiker von Métalovoice. Sie besetzen einen Platz der Stadt im Rund und hämmern ihre industriellen Rhythmen, lassen Funkenfontänen spritzen und erzählen auf englisch und französisch von Börse, Managern und Flüchtlingen, dargestellt von einer bezaubernden Sängerin. Die Kompanie findet zurück zur prallen Energie ihrer früheren Stücke wie „Do Hit“ und hat die Experimente mit Bildschirmen und Geigen erst mal beendet.

    Der Goliath (Trottoir 35) ist nicht mehr der einzige Katalog für Strassen- und Zirkuskünste. Im frankophonen Belgien (Wallonie und Brüssel) gibt es taufrisch Le Nomade. Ein Führer, der 150 Kompanien oder Solisten vorstellt, Schulen, Künstleragenturen, Dokumentationszentren, kuturpolitische Institutionen und Ansprechpartner sowie  40 Festivals oder Theater, deren Saisonbetrieb Strasse und Zirkus offen steht. Le Nomade vermischt beide Genres, die auch in der Realität zusammen wachsen. Zu beziehen ist Le Nomade für Euro 14.50 bei Olé Olé ASBL in Brüssel : 00 32 479 33 96 21. www.oleole.be

    Redaktion: Thomas Hahn

    Ausklang der Saison in Spanien:

    Barcelona Arts de Carrer 20.-24. September
    www.fuci.org/artsdecarrer/bac.htm  00 34 93 316 11 59

    Festival Internacional de Teatro de Calle en Getafe 27.-29. September
    Getafe www.teatrodestellos.com  00 34 91 601 76 40

     

    Show!time 

    AdNr:1087  

    2003-09-15 | Nr. 40 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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