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    VON STILLEN BIOTOPEN UND BAKTERIENWELTEN

    Stille Wasser sind nicht nur tiefgründig, sondern auch fruchtbar - wie man an Hannover und der angrenzenden Provinz sieht. Hildesheim zum Beispiel entwickelt sich zu einem wahren Biotop der Kleinen Künste. Von dort zogen nicht nur Marianne Iser und Thomas Duda aus, als Duo die Hitparaden der Chansonwelt zu erstürmen. Ihr neues, drittes Programm, das auf den märchenhaften Titel Blut im Schuh getauft wurde, seziert die makabren Abarten der Liebe, verbindet große Gefühle mit Groteske, herzrosa Glasur mit Wut und Wahn. All das hat Marianne Iser auch in ihrer Stimme, von engelhaft bis satanischimmelhochjauchzend bis rachegurgelnd, Kitsch bis Grausamkeit, all das entlockt auch Thomas Duda seinem Piano. Nach den begeistert gefeierten Premiereabenden im Theater am Küchengarten (tak) gesellt sich nun im November in Hannovers Künstlerhaus erstmals eine Cellistin zu den letztjährigen Gewinnern im Nachwuchswettbewerb Chanson - eine knisternde musikalische Dreiecksbeziehung. Aber zurück zum Biotop Hildesheim: Dort hat sich ein Mensch, der sich Waldemar Müller nennt, nach einigen Lehr- und Wanderzeiten in Comedygruppen und der Philippe-Gaulier-Schule angesiedelt, zwecks Eroberung des Rests der Welt. Denn als Angestellter hat Waldemar Müller klar erkannt: "Das Elend ist, daß man den ganzen Tag mit Arbeit vertrödelt". Vor einem riesigen Regal als Kulisse offenbart er die Wahrheit über die Welt des Büros: ein surrealer Mikrokosmos, in dem Alltäglichkeiten zu Dramen wandeln und Ordnungsstrukturen sich in sich selbst verstricken. Diesen Zustandsbericht aus unser aller alltäglichen Arbeitshölle gibt's einmal als abendfüllendes Werk namens Office, außerdem als Varieté Nummer und als Walk Act mit Müllers mobilem Büro. Letzteres gastiert im November 99 beim World Cup Festival des Straßentheaters in Japan - von Hildesheim in die Welt ist halt nur ein kleiner Schritt. Auch die Steptokokken, ein schräges Stepperinnen-Duo aus - jawohl! auch! - Hildesheim trieben ihr lach-erregendes Unwesen schon von Italien bis Rußland. Kein Wunder, ihre Bacterial world ist ansteckender als manch asiatischer Grippevirus. "Global touren, lokal infizieren", ist ihr Motto, wenn sie als Karius und Baktus unter der Brücke eine Bleibe suchen, als Spice-Gurken im Kunstrasen-Kleidchen über die Bühne rappen oder einen gnadenlos schrecklichen Schuhplattler hinhauen. Jou, Hildesheim hat der Welt was zu bieten! Hannover allerdings auch: Matthias Brodowy spielte sich mit seinem zweiten Solo Wanderer zwischen den Zeilen in vordere Auftrittsreihen. Ursprünglich dem semiprofessionellen Hannover-Kabarett Profilachticker entsprungen, hatte Brodowy im Februar sein intelligent gewitztes und gesellschaftskritisches Programm bei den Calenberger Kabarettwochen in der Werkstatt Galerie Calenberg (WGC) vorgestellt. Im März wurde ihm das "Schwarze Schaf vom Niederrhein" zuerkannt, mit heftigen Nachwirkungen: Drei Wochen lang stand das Telefon nicht still. Einer der Anrufer war Hans Dieter Hüschs Manager Jürgen Kessler, der sich jetzt um Tourneen und TV-Auftritte des frisch Gerühmten kümmert.  

    Hüsch wird auch den Preis überreichen - am 15.9. in der WGC; am 12.12. gastiert er im tak.

    Weiterer vielversprechender Nachwuchs wurde bei den WGC-Kabarettwochen gesichtet: Die jungen hannoverschen Heckenschützen begeisterten mit Sprachwitz und gut sitzenden Pointen. Bissig und rasant zum Beispiel das Rededuell zwischen Rotbarsch und Schröder: Denn der Fisch ist in einen Zeitungsartikel über den Kanzler eingewickelt, was Anlaß zur scharfen Debatte um Inhalt und Verpackung gibt. Ansonsen verzauberte Diseuse Dana das Publikum stimmgewaltig mit frechem Gebpauder, süffigen Chansons und erdiger Stimme; Herr Schill und der Unglaubliche Heinz zeigten fröhlich klamaukig und grotesk, wie gut es sich übers Single-Dasein lachen läßt und nicht als Nachwuchs, sondern als ein Höhepunkt demontiert der ostwestfälische Schnellredner Thomas Philipzen die Welt der Wahren Helden. Denn was passiert nur mit all den Filmheroen, die nach überstandenen Abenteuern in die Sonne reiten? Klar, die Sonne muß total voll sein.

    Balzen auf Mallorca

    Apropos Sonne: Die strahlte in diesem Jahr endlich mal üppig bei Hannovers Kleinen Fest im Großen Garten - wie es sich zu einem 10-jährigen Jubiläum gehört. Und da man den Kartenverkauf diesmal per schriftlicher Vorbestellung und Abendkasse abwickelte, konnten die Fans ohne stundenlange Warteschlange in den Genuß des Sommerabend-Vergnügens kommen. Sollte man nach im 10. Jahr tatsächlich einen passablen Verkaufsmodus gefunden haben? Anläßlich des Jubiläums hatte sich der "Herr mit dem Zylinder" alias Kulturdezernent Harald Böhlmann für eine Greatest-Hits-Parade entschieden. An den Start gingen das britisch-trocken-urkomische Duo Schulze & Schröder, die Hannover sowieso am liebsten einbürgern würde, der grandiose niederländische Geräuscheimitator Niels Boes, das Improvisations Theater Emscherblut, immer für heftige Lacher gut; Cotton McAloon schmiß wieder mit Keulen und Pointen um sich; Hannovers Stimmenimitator Christian Korten nahm sich der neuen Polit-Promi-Szene an und das Marionetten-Theater Holznasen vollzog eine herrlich amüsant-melancholische Parodie auf das Balzen auf Mallorca. Doch wer nur die Best-of-Parade mitnahm, verpaßte den witzig Röhren-Reigen der deutsch-französischen Gruppe Rue Piétonne, die sich mit Camila - Der Meister und das Röhrenwesen ebenso Anspruch auf einen vorderen Platz in der Fest-Hist-Parade verschaffte wie das belgische Theater O! mit Olipodigro: Überlebensgroße Figuren, von zwei Leuten geführt, vollzogen poetisch-absurde Rituale und gingen auf merkwürdige Weise ans Herz. Gespalten waren die Meinungen bei der "Samstag-Abend-Fernseh-Show"  Bo Doerek ist Trumpf: Das Duo startete einen parodistischen Durchritt durch von Waterkant-Weisen bis zu Dsching-Dsching-Dschingis-Khan und tanzte gekonnt dazu vor einem überdimensionalen Poster. Doch die Kurzform ihres abendfüllenden Programms, das hier im Künstlerhaus absolut abräumte (und am 19. & 20. November wohl wieder abräumen wird), kam zeitweise kaum als Persiflage rüber.

    Im Theater im Künstlerhaus regnets sonst in diesem Herbst Premieren: Thomas Quasthoff, auch als klassischer Sänger bekannt, Jörg W. Gronius und Bernd Rauschenbach haben gemeinsam ein bisher vernachlässigtes Thema entdeckt: Sein Wunder sein Mass: Erhard lautet etwas kryptisch der Titel einer Heinz-Ludwig-Erhardt-Revue, die unserer Republik bisher gefehlt hat. Eine nicht allzu nostalgische Rückschau auf den Vater der D-Mark und des Wirtschaftswunders, bei der kein Schlager aus den 50er Jahren ungesungen bleibt (Premiere 25.9.). Außerdem hat Pantomime Peter Mim zwar wohnsitzmäßig Hannover zugunsten von Rehburg-Loccum verlassen, auf hiesiger Bühne wird er aber sein Abendprogramm The Best of Peter Mim erstaufführen. Mim führt die klassische stumme Kunst à la Marcel Marceau weiter; außerdem sind seine Chaplin-Szenen hochbeliebt - hervorragende Körperbeherrschung und langjährige Bühnenerfahrung zeichnen den Bulgaren aus. Als Drittes gibt's eine Vorpremiere: Sybille Hein und die kleinen Wahnsinnigen kommandieren Ich sitz oben...- und los! Sie selbst nennens Psycho-Pop-Kabarett, besingen Mamis Sodomie, kleine Lügen und leergelutschte Weiber, und laut Hamburger Abendblatt kann man bei ihnen endlich mal wieder Gefühl und Geist gleichzeitig ausführen. Beim Kabarett-Festival in den Hamburger Kammerspielen wurde Sybille Hein als Entdeckung gehandelt; hoffentlich fällt ihre Vorpremiere hier genauso gut aus wie die des Berliners Markus Jeroch in unserem südlichen Vorland. Beim Gasthaus Hahn in Ottenstein, im Weserbergland hinter Hameln, jonglierte der große Schlaksige mit den gepuderten Struwwelhaaren wieder brillant mit Bällen, Sätzen, Wortfetzen. Und Klobürsten: denn diesmal dreht sich bei Jeroch fast alles ums gewisse Örtchen. Motto: "Klos to you" oder auch "Wenn die Notdurft ich verrichte, setz ich mich oft hin und dichte..." - Reime übers Ausdrücken. Dann schickt er zehn kleine Dichterlein auf eine ellenlange Vers-Reise, bei der sie sich nach bekanntem Negerlein-Muster dezimieren, wieder zehn werden, in den Spiegel schaun und plötzlich 20 sind, zu Hunderten einen Dichterverband gründen, wegen Mitgliedsbeitragserhöhung aber wieder austreten. Zwischendurch gibt er eine Art Kaspertheater zum Besten, spielt Strümpfe-Memory am Wäscheständer oder seziert philosophierend Dadaismus in Da-da-is-mus. Der Puder staubt ihm aus den Haaren, er arbeitet mächtig und hat dabei gottseidank nie selbstgefälliges Künstlergehabe drauf, aber auch nicht jene gezwungene Pose der Natürlichkeit, von der Andy Warhol zu Recht sagte, sie sei die allerschwerste. Vielmehr spielt er konsequent seine Künstler-Kunstfigur durch, die wie aus seinen skurrilen Texten entsprungen scheint und der auch die Vorpremieren-Verlegenheit liebenswert zu Gesicht steht. Am 13.-16. Oktober gastiert er im Theater am Küchengarten (tak). Die Texte stammen zum Teil wieder aus der Feder von Friedhelm Kändler. Der so vielzitierte hannoversche Wowo-Autor war mit dem Projekt einer eigenen Bühne glücklos - sein geplantes Theater Kongreß fand bei der Stadt Hannover geschlossene Kassen vor und muß wohl mangels Scheinchen wieder dichtmachen.  

    Oder ist das - hoffentlich - nur eine Fehlinformation aus der Gerüchteküche?

    Die Meldung der Frühjahrsausgabe, die Hebebühne habe sich von dem Autor Oskar Ansull getrennt, sei hiermit jedenfalls wunschgemäß ausdrücklich dementiert. Bei ihren neuen Programmen arbeitete die auch als 7. Orchester bekannt gewordene Gruppe allerdings hauptsächlich mit Peter Düker zusammen, ein Autor, der das hiesige Lebensgefühl treffend so auf den Punkt gebracht hat: "Nach ein paar Tagen Aufenthalt in Hannover erkennt sogar der hartnäckigste Tourist, daß es wichtiger ist, um zwölf Uhr nachts einen geöffneten Kiosk in der Nähe zu haben, als einen berühmten Fischmarkt." In Mut IV präsentiert der Autor selbst einen eigenwilligen Liederabend; in Diese Stadt - Hannoverstimmung singt und rezitiert Bengt Kiene Texte rund um Hannover im gala-gerechten 40-Minuten-Format.

    Bleiben nur noch einige Stichworte zum norddeutschen Kleinkunsthauptereignis im Herbst: Bei der diesjährigen Mimuse vom 9. bis 24. Oktober gibt's den Zeichen der Zeit ensprechend viel Musik und Stand-up-Comedy, aber mit dem gewissen Etwas. Wie Susanne Weinhöppels Frauenkabarett mit Harfe oder Arnim Töpel, der Kabarett mit Blues verbindet. Eröffnet wird unter anderem mit Kabarett- und "Polizeiruf"-Oststar Uwe Steimle sowie einem dozierenden Pantomimen, der sich Pinguin nennt. Ein großer Abend mit Stand-up-Comedy, ein schriller Comedy-Abend, bei dem Kai Eikermann mit "bewegter Comedy" angekündigt ist, ein schönes Understatement, der Mann breakdanct. Der "Crazy Clowns"-Abend präsentiert Avner Eisenberg, großen, klasisch geschulten Clown aus USA, Max Nix macht die Moderation. Jörg Knör wird wohl mit seinen Stimmparodien für volles Haus sorgen, Herr Thiel & Herr Sassine aus der Schweiz versetzen zurück in einen literarischen Salon, und zum Abschluß stellt ihre legendäre Landsmännin Gardi Hutter fest: "Das Leben ist schon lustig genug". Das findet auch

    Redaktion: Evelyn Beyer

     

    1999-09-15 | Nr. 24 | Weitere Artikel von: Evelyn Beyer





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