Ein Jahr vor dem runden Börsengang hatte man schon das Vergnügen, sich an neue Raumdimensionen zu gewöhnen. Die neu geschaffene Messesituation ist seit 2007 ein Segen für viele Messeakteure, auch wenn sich Messebesucher mit Neigung zu Kleinkunst und Musik nun beim Kulturmarathon zwischen Theatersaal, Messehalle und Musikbühne einen Wolf laufen – denn durch eine Messehalle voll verkaufswilliger Agenten und Künstler Spießruten zu laufen, ist ein Vergnügen, das man gerne umgeht. Bei der 20. Internationalen Kulturbörse Freiburg kam der Zuwachs nun auch noch von völlig unerwarteter Seite – nämlich aus der sogenannten Serviceecke. Weniger Perfektionswille und mehr Improvisationstalent beim Drumherum hätte der 20. Internationalen Kulturbörse Freiburg jedenfalls sicher gutgetan.
Die Bedeutung großer, internationaler Messen erkennt man an Parametern wie Parkgebühren – wird man sich gedacht haben. Vorsorglich hat man deshalb gleich überreagiert. Viele Börsianer packte das Entsetzen schon bei der Einfahrt zum Messegelände: Herren in Sicherheitswesten winkten dort mit der Gebührenkeule. Skurril geradezu, dass man am ersten Messetag erst vier Euro Parkgebühren hinlegte, um dann bei der Ausfahrt wieder zwei Euro zurückerstattet zu bekommen. Schnell hatte die Messeleitung darauf reagiert, dass derartige Preise einer bedeutenden Messe zwar durchaus zustehen, aber mitten im Industriegebiet, wo kein Münster lockt, und breite Ausfallstraßen en gros zum Parken einladen, nicht haltbar sind. So kam es auch, dass der Messeparkplatz einen ungewöhnlich übersichtlichen Anblick bot. Im Falle Freiburg ist der Versuch, Dinge zu etablieren, die man von anderen großen, kommerziellen Schauen kennt, ein bisschen so, als verspiele man seine Unschuld. Hier sind die meisten Messebesucher Menschen, die seit mittlerweile 20 Jahren nach Freiburg pilgern, um dort die Gesellschaft Gleichgesinnter zu finden. Sie sind die Seele der Freiburger Kulturbörse. Dieses bunte Völkchen ist sicher keine besonders finanzkräftige Klientel, aber eine, die durchaus mit mehr Improvisation und weniger Reglements klarkommt. Mehr Großzügigkeit zum denkwürdigen Börsengang hätten sich viele Messeakteure in manchen Situationen gewünscht.
Schön, dass man im Sinne der Bühnenakteure so über die Maßen um ruhige Verhältnisse in den Zuschauerrängen bemüht war. Es war nur gut gemeinte, nicht gute Organisation, wenn, wie am Dienstag, Messebesucher zwischen den Kurzauftritten schlichtweg nicht in den Theatersaal gelangen konnten, weil das Personal an der streng bewachten Theaterpforte einfach vergessen hatte, sie hereinzulassen. Exerzierte man an der Theatersaalpforte ansonsten gnadenlose Überpünktlichkeit, so gab es zur Musikbühne ohnehin ein durch geschickte Wegeführung gut geregeltes Kommen und Gehen. Mit der Präsentation der „Next Generation“ des Magazins Jazzthing zu vorgerückter Stunde erwies man sich fast einen Bärendienst. Fünfzig Zuschauer warteten eine geschlagene halbe Stunde auf den Beginn des Konzertblocks. In der Zeit stand das Max Frankl Quintett bereits auf der Bühne und werkelte selbstversunken vor sich hin. Eine einfache Ansage hätte Wunder gewirkt. Die Frage, ob das denn nun schon der Auftritt sei, eben experimenteller Jazz, oder tatsächlich erst ein Soundcheck, stellten sich wenige. Viele verließen den Saal vor der Zeit. So spielten auch die beiden nachfolgenden Spitzenformationen, das HDV-Trio und das Lorenz Hargassner Quartett, vor nur noch knapp zwanzig Zuhörern.
Doch es gibt von der 20. Internationalen Kulturbörse Freiburg auch Erfrischendes zu berichten. Erstmals wurde die Freiburger Leiter überreicht, ein mit 3.000 Euro und zahlreichen nützlichen Sachpreisen dotierter Wanderpokal, der in Zukunft jährlich auf der Kulturbörse vergeben werden soll. Über die Vergabe entscheidet das Börsenpublikum per Stimmzettel. Die Freiburger Kulturbörse ist seit 20 Jahren der Ort, an dem Karrieren gemacht werden. Wer vor dem Börsenpublikum besteht, schafft es überall in der Republik und darüber hinaus. Mit der Freiburger Leiter nimmt diese Fama der Kulturbörse nun endlich greifbare Formen an. Am Ende der Börse stand also ein mit geballter Fachkompetenz gefälltes Urteil fest. Die Auszeichnung ging in die Sparte Musikkabarett, an die unvergleichliche Anna Maria Scholz alias Annamateur, mit ihrem sensationellen Begleitduo Aussensaiter, Stephan Braun am Cello und David Sick an der Gitarre. Gleich nach ihrem Kurzauftritt wurde die Nachwuchskünstlerin aus Dresden bereits als die Entdeckung des Jahres gehandelt. Großformatig in jeder Hinsicht, mit enormer stimmlicher Bandbreite und Ausdruckstiefe, mit einer natürlichen Grazie, die tief berührt, durchforstet Annamateur die Musikgeschichte von Charlie Parker bis Dalida, glänzt mit Titeln aus eigener Feder, und ist dabei doch „nur“ sie selbst. Nur so eine beachtliche Bühnenpersönlichkeit kann eine so schwerwiegende Auszeichnung wie die Freiburger Leiter derart unprätentiös entgegennehmen. Annamateur war mit dem Zug nach Freiburg gereist. Und so nahm sie die Dinge, die da in Zusammenhang mit der Auszeichnung auf sie zukamen, mit trockenem Humor an: den funkelnagelneuen Wanderpokal, eine Leiter, sechs Fässchen Rothhaus Bier, diverse Bouteillen badischen Weins und ein enormes Blumenbouquet. „Lass es uns hinter uns bringen. Ich bin vollkommen durch“, sagt sie am Ende mitten aus dem Materialberg zu Moderator Florian Schröder, und aus dem trotz Börsenaufbruchsstimmung gut besuchten Theatersaal flutete ihr eine Welle der Sympathie entgegen.
Im Theatersaal neu waren die Moderationen von Florian Schröder zwischen den Kurzauftritten. Zuweilen aber wünschte man sich die sachlichen Ankündigungen von Wolfgang Schröder zurück. Der „neue“ Schröder musste in der Rolle als Börsenmakler auf Gedeih und Verderb einfach zur Rampensau werden. Eine Verschnaufpause in den Umbaupausen hätte man dem Fachpublikum ruhig gönnen dürfen.
Aufs Börsenparkett begab sich nicht nur sensationeller Nachwuchs. Auch gestandene Formate wagten den Schritt. Nessi Tausendschön ist so ein Kaliber. In jeder nur erdenklichen Position vollführt sie im aktuellen Programm „Perlen und Säue“ das Kamasutra des „Frustschutzes“. So zeugte ihre Nummer mit der Sportreporterin von überragend geni(t)alischer Eloquenz. Es verlangt schon geballte Wortpotenz, um bei der Berichterstattung zu den „Deutschen Meisterschaften im Kunstvögeln, live am Empfangsgerät“ derartige Inbrunst auszulösen, dass das Publikum in einem Zuge mehrfach Höhepunkte erlebt. Nein, sie hat es wirklich nicht nötig, sich auf dem Börsenparkett zu beweisen, aber ihrem Publikum hat sie damit eine übermäßig große Lust bereitet. Dem frischen Auftritt mit singend scharfer Säge und frechem Liedgut verlieh Marcus Schinkel zudem einen fulminanten Flügel.
Dieser Flügel war erst tags zuvor dem Musikkabarettisten Sascha Bendiks unter den Fingern von Pianist Simon Höneß irgendwie zum Verhängnis geworden. Die „Hard Rock Variationen in es-Moll für Klavier und Akkordeon“ kamen darauf einfach nicht in Schwingung. Der Flügel klang wie ein abgehalfterter Klimperkasten im Westernsalon. Am Gesangsmikrofon schien Bendiks schweres gesangstechnisches Geschütz auffahren zu müssen, um sich wohl überhaupt selbst hören zu können. Es mag an Techniken auf beiden Seiten der Tonerzeugung gelegen haben, dass „Stairway to Heaven“ als Tango einfach nicht richtig zündete, „Highway to Hell“ als Schlagerschnulze nicht wirklich ergriffen machte und die ganze Bühnenshow leider im Mulm unterging. Den beiden wackeren Musikkabarettkämpfern hätte man Besseres gewünscht.
Das geschundene Ohr durfte bei maschek einen mediensatirischen Zwischenstopp einlegen. Das Programm „maschek.redet.drüber“ ist ein Potpourri herkömmlicher Nachrichtenfilme. Darüber reden die drei Österreicher Peter Hörmanseder, Ulrich Salamun und Robert Stachel auf der Bühne. Und Drüberreden darf man wörtlich nehmen. Wen juckt es schon, was Fidel Castro vom Krankenbett aus per Nachrichtensendung einmal in die guten Stuben diktieren wollte, wenn maschek ihm die Worte aus dem Mund nimmt und satirischen Zündstoff hineinlegt? Geschichtsklitterungen der satirischen Art haben eindeutig einen höheren Unterhaltungs- und Nachrichtenwert, etwa wenn Castro mit österreichischem Zungenschlag krächzt. Wem die drei Satiriker so auch immer dreinreden, es kann in besonders schweren Fällen den Lauf der Welt verändern oder einfach nur Spaß machen. Eine besonders unterhaltsame und intelligente Art, die Rückstände der Medien- und Informationskultur dem Recycling zuzuführen ist das Dreinreden allemal.
Eine seltsame Blackbox ist so ein Flügel. Kaum hatte er bei maschek mal Pause gemacht, da war der gute Ton wieder da. Es kann nicht nur an dem zaubernden und bezaubernden Musikcomedy-Duo Ass-Dur und deren Programm „1. Satz: Pesto!“ gelegen haben, dass dem Tastenkasten die Töne plötzlich wieder schmeckten. Da tanzte schließlich auch der Bi-Ba-Butzemann durch alle musikalischen Epochen und Register über die Klaviatur. Musikalische Leichtigkeit und Virtuosität kennzeichnen das Programm der beiden Studenten der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin, Dominik Wagner und Benedikt Zeitner. Aber das alleine macht nicht den Charme dieses pfiffigen Doppels aus. Es sind die rasanten Wechsel zwischen spröden, Wissenschaftlichkeit heuchelnden Fachvorträgen, dem wunderbaren Bariton von Benedikt Zeitner und dem von beiden Assen so unglaublich gut und in der Tat presto und nicht „pesto“ vorgetragenen vierhändigen Klavierspiel. Da muss schon mal die Ungarische Rhapsodie von Franz Liszt als Umkleidekabine herhalten, wenn es zum Gang in die Garderobe nicht mehr reicht. Zumindest eine Hand zum ent- und bekleiden kann man beim vierhändigen Spiel auf Schwarz und Weiß ja schließlich immer erübrigen. „1. Satz: Pesto!“ jedenfalls ist ein atemberaubend lässiges Nudelgericht.
Kurzauftritte gleich im Familienpack schienen sich die Kölner und Berliner Comedy- und Stand-up-Szenen reserviert zu haben. Über Medienformate wie Night Wash und den Quatsch Comedy Club sind sie ohnehin allgegenwärtig und eng miteinander verbandelt: Knacki Deuser, Achim Knorr, Cindy aus Marzahn und Johannes Flöck. Doch auch das hatte mal seine Berechtigung, denn schließlich durften die vom schnellen TV-Geschäft in der Wahrnehmung flach gewordenen Comedy-Stars so endlich mal wieder beweisen, was tatsächlich in ihnen steckt: Bühnenpräsenz und mehr als nur flotte Sprüche, die sogar ein so sattes Publikum wie das Freiburger zum Lachen animierten. Das Kölner Stand-up-Comedy-Sternchen Carolin Kebekus war in einer Persiflage auf das Milieu von der „Schäl Sick“ zu erleben. Wenn sie von Kindernamen erzählt, die man gut brüllen kann, von dem Kampfhundeverleih um die Ecke, von der Oma aus Oberschlesien und ihrem Endzeitkaffeekränzchen, wenn sie die „Asis“ aus ihrem Viertel mimt, wird klar, dass selbst Comedy zumindest Fragen aufwirbelt. Bei Kebekus wird man mitten in das Auge des Orkans geworfen, dort, wo sich bundesrepublikanische Realitäten (auch) ereignen. So hält sie dem Teil der Gesellschaft, der Kultur konsumiert, einen Zerrspiegel vor. Das Nachdenken wird zwar zum Privatvergnügen und setzt im Idealfall ein, nachdem die Lacher verflogen sind; aber aus dem Schlaf der Gerechten rüttelt diese Darbietung allemal wach.
Von den Zuschauerrängen aus eroberte Kabarettist Claus von Wagner die Bühne. Es sei sein erster Auftritt, für den er bezahlt habe. Da wolle er es sich nicht nehmen lassen, sein Publikum ganz genau zu begutachten. Zwei Dilemmata nimmt er im aktuellen Programm „Im Feld“ vorweg: seinen Geburtsfehler – als bayerischer Protestant geboren zu sein – und seine zu netten Eltern. Wie bitte schön soll man ein Protestpotenzial entwickeln, wenn man statt „iss den Teller leer“ befohlen zu bekommen freundlich gebeten wird, aufzuhören, bevor es einem schlecht wird? Was seiner Generation bleibt, ist ungewollt Kinder zu zeugen beim „Pechvögeln“, in einem Land, in dem die Mehrwertsteuer für Kinderwindeln bei neunzehn, für Hundefutter aber nur bei sieben Prozent liegt. Er hat es geschafft, aus der konfliktfreien Kindheit herauszuwachsen. Im Bühnenleben als Kabarettist beweist er nur den nötigen, nicht den unnötigen Ernst. So wechselt von Wagner von deftigen Polithieben zu Slapstickeinlagen, wie dem Tanz vor dem Handtrockner auf der Autobahnraststätte, und erzählt herrlich lässig Geschichten mit Zeitgeistpointen. Eine bestechende Mischung.
Ein Generationenproblem hat auch Heino Trusheim im Programm „Früher war besser“. Sein Tinnitus, das sind eigentlich nur die Gedanken im Kopf eines nicht mehr ganz jungen und längst noch nicht ganz alten Mannes, der in die Identitätskrise geraten ist, wo es eigentlich keine gibt. Wenn Trusheim 18-Jährige in der Disko tanzen sieht, dann wird ihm klar, dass sich sein Bewusstsein weiterentwickelt hat und nur der Körper nachlässt. Ein launig kurzweiliger Gedankenstriptease.
Die Utopien, die Andreas „Spider“ Krenzke in seiner Lesung „im Arbeitslosenpark“ entwickelt, bahnen sich mit Nacherzählungen von winzigen, realsatirischen Begebenheiten in Supermärkten ganz sachte an und münden durchaus in Vorschlägen für intelligentes Design in der menschlichen Fortpflanzung der Zukunft. Krenzke gibt seine feinstofflich anmutenden Beobachtungen mit sehr viel Understatement preis. Dabei wirkt er wie ein Seelenbeschauer. Er entblättert, wenn er vom Blatt liest, und macht aus Zuhörern Mitwisser. In der Enthüllungsgeschichte über Bio-Eier breitet er die ganze Misere eines Landes aus, in dem es fünf Millionen Arbeitslosendarsteller gibt: Eine bescheidene Existenz trickst die andere im Überlebensspiel mit sehr bescheidenen, aber erfolgreichen Mitteln aus. Eine überaus menschliche Leseshow.
Rick Kavanian erzählt als „Kosmopilot“ so etwas wie die unendliche Geschichte. Ein Überflieger ist er geradezu in Sachen Spannung halten. Wie beim Zappen an der Glotze stolpert er von einer in die nächste Episode und wieder zurück. Immer knapp vor der Pointe schaltet er mal kurz um. Da bleibt das Publikum hungrig bis zum Schluss. Vom Gibbonäffchen im Löwenmaul auf der Safari in Botswana bis zum Weihnachtsgeschenk für den Schwiegerpapa und dem Tourmanager von Papst Benedikt – man ist sich nie sicher, ob das gute oder schlimme Ende nicht erst ein böser oder wundervoller Anfang ist.
Bei der Schweizer Artistentruppe Stage TV durfte man einfach die Seele baumeln lassen und in einen Wunderguckkasten mit intelligenten und aktiven Farben, begnadeten und geschmeidigen Körpern hineinstaunen. Jonglage, Artistik, Akrobatik und Videokunst wurden so faszinierend miteinander zu einem Gesamtkunstwerk verwoben, dass es dem Genuss nicht den geringsten Abbruch tat, wenn da mal ein Bällchen aus dem Bild kullerte – ganz im Gegenteil erntete die Truppe gerade hierfür reichlich Sympathiebonuspunkte.
Was noch lange nachhallen wird, sind die Stimmen der drei simbabwischen Sänger Ramadu, Vusa Mkhaya Ndlovu und Blessings Nqo Nkomo. Zusammen mit dem Pianisten Roland Guggenbichler bilden sie das Herzstück der Wiener Formation Mozuluart. Ihnen gelang der bezaubernde Wurf, die Zulumusik mit der Mozarts nicht zu verschmelzen, sondern so kontrapunktisch und auf Augenhöhe zueinander in Beziehung zu setzen, dass wie in einer Klangraumzeitmaschine die Vision von der verbindenden Kraft der Musik über alle Epochen und Nationen hinweg tatsächlich Gestalt annahm. Wer dieses Klangerlebnis geteilt hat, wird es nie wieder vergessen.
Redaktion: SybilleZerr