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    2002 = Mimos x 20

    Mimos ist unumgänglicher Bestandteil von Szene Frankreich. Und zur Zeit auch fast der einzige. Die Entscheidung ist gefallen, Szene Frankreich auf nur noch zwei Berichte im Jahr zu kürzen. Dabei ist Mimos ist nicht das einzige Festival im Land, das das Feinste vom Körpertheater aus Europa und dem Rest der Welt bietet. Zu wenig Feedback war der Grund für die Kürzung. Erreicht Trottoir jene Kreise nicht, für die meine Auswahl an visueller Kleinkunst, Mime, neuem Tanz, Tango, Fado, Butoh, Musiktheater etc. eine Schatztruhe ist ? Oder bleibt Ihr so wortlos, aber geschäftig wie die Mimen? Greift zum Telefon, wir hoffen auf Eure Reaktionen. Sonst bleibt, wenn überhaupt, eine Seite pro Jahr für Europas vielfältigste und innnovativste Szene. Nicht dass anderswo weniger Talent vorhanden wäre. Doch in Frankreich werden freie Kompanien einfach besser gefördert als in anderen Ländern und gerade Körpertheater spriesst in allen Formen und Farben.

    Und nun zu Mimos 2002, der zwanzigsten Ausgabe. Obwohl eine prominente Kompanie als Zugpferd fehlte, war das Jubiläum ein Publikumserfolg. Geschätzte 20.000 Zuschauer bei den Strassenaufführen (siehe Rubrik Strassentheater) und ein deutlich gesteigerter Ansturm auf die Eintrittskarten belegten es. Und wer Tickets kaufte, sah sehr engagierte Kompanien. Endlich einmal konnte Peter Bu eigene (Co-) Produktionen vorstellen. Das Théâtre du Mouvement, Linea Sombra aus Mexiko und Théâtre Omnibus aus Montreal kreierten gemeinsam « Latitiudes croisés“, „Gekreuzte Breitengrade.“ Die Bühne ist das Deck eines Ozeanriesen. Die (Roman-) Figuren, inspiriert von Elias Canetti, repräsentieren Archetypen der Psyche. Der Stil ist ganz Belle époque, das ganze Stück so glatt und stilvoll wie Partytalk auf der Titanic. Natürlich zerfällt die schöne Oberfläche in Angstzuständen und Mordgelüsten. Die Arbeit an den Personen ist filigran. Es bleibt, dass die Recherche vor allem Ästhetik, Stil und Psychologie betrifft und nicht, wie vom Théâtre du Mouvement gewöhnt, die Körpertechnik als tragendes Mittel der Dramaturgie. Wenn drei Kompanien zusammen arbeiten, muss halt ein Kompromiss gefunden werden, auch wenn Omnibus direkt in der Linie von Etienne Decroux arbeitet und Linea Sombra die mexikanische Avantgarde des Körpertheaters repräsentieren. So ist „Latitudes Croisées“ ein feiner „Theaterabend“ eher klassischen Zuschnitts.

    Noch aufwändiger sind die Produktionen des Théâtre de la Mezzanine. Das manchmal apokalyptische Bildertheater der Kompanie ist geprägt von komplexer Bühnentechnik, Trickeffekten à la Philippe Genty und den Obsessionen des Regisseurs Denis Chabroullet. Vor allem Krieg, Karussells und der Zerfall der Welt zählen dazu. Das neue Stück heisst „Shooting Star“ und durchläuft die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Bühne ist ein Velodrom, die Figuren sind Soldaten, ob lebend oder als lebens- bzw. todesgrosse Puppen, fliegende Pferde, ein Clown im Tutu, Tänzerinnen und Prominente Gäste wie Lenin oder Jesus. Tänze, Kostüme und die Bandenwerbung ändern sich Wandel der Epochen. So auch die mechanischen Puppen, die auf den Rennrädern sitzen. Von Major Taylor, dem « Fliegenden Neger » vom Anfang des Jahrhunderts bis zu Jens Heppner. Das Sechstagerennen als Spiegel der Weltgeschichte, Ort des Balls und der Demenz. Nicht den physischen, sondern den psychischen Horror das Krieges fängt das Stück ein. Ein wildes Fresko, ein visuelles Pamphlet um das 20. Jahrhundert zu begraben.

    Der Butoh ist ein ständiger Gast auf Mimos. Masaki Iwana präsentierte ein sehr theatralisches Stück für fünf Tänzerinnen : « Figures de femmes. » Fünf « Frauenfiguren » in einem Sanatorium, plus eine Bunraku-Puppe. Nicht nur exzellentes japanisches Tanztheater sondern auch ein Stück mit historischem Hintergrund und ein Beitrag zur Aussöhnung zwischen Japan und Korea, da es die diskriminierte Minderheit der Koreanerinnen im Japan der 1920er Jahre würdigt.

    So überwältigende Bilder wie Théâtre de la Mezzanine bietet auch Marta Carrasco. Die Choreografin und ehemalige Tänzerin aus Barcelona spielt sich in « Miram’s » recht nahe an eine sakrale Dimension, und untersucht das Gewaltpotenzial des Menschen. Auch noble Gefühle und gar die Liebe enthalten Gewalt, lautet ihre Botschaft. Auch bei ihr tanzen irreale Kreaturen wie gehörnte Amazonen und andere Engel.  Die Athmosphäre ist dämonisch, pathetisch, barock und schwungvoll. Ständig pendelt das Stück zwischen Klownerei und düsteren Stimmungen, zwischen Alptraum und Gelage. « Miram’s » ist die Geschichte einer Familie, vor ihrem (metaphorischen) Schiffbruch und dennoch ein Fest für die Sinne.

     

    Humor pur

    Aus Spanien kamen auch Yllana mit ihrem neuen Werk, « 666. » Unglaublich : ihre Clownfiguren sind Häftlinge in der Todeszelle, und sogar auf dem elektrischen Stuhl. Geschmacklos ? Na klar, aber schwarzer Humor strahlt am hellsten, u.a. gegen Spaniens Geister der Vergangenheit. Über eine Exekution zu lachen, wird hier ein Akt der Befreiung. Die Bewegungstechnik der Truppe,  z.B. in Zeitlupen, ist brilliant und die Mechanismen der Burleske beherrschen sie perfekt. Nur, ganz ohne Grimassen und Gebrüll geht es leider doch nicht. Hier sind alle Figuren Männer, im Gegensatz zu Iwana und Carrasco, bei denen nur Frauen auf der Bühne stehen.

    Mimos 2002 bot auch einen Überblick über aktuellen Humor in Tschechien. Völliges Delirium bei Theater Igdyz und Bile Divadlo, dem « Weissen Theater. » Die Komik von Igdyz (in etwa : « Trotzdem ») ist genauso wild wie jene von Yllana. Der Leiter der Kompanie, David Dvorak, ist auch Ko-Direktor des Mimefestivals in Kolin. Ihr Stück heisst in etwa « Das feindliche Badezimmer. » Es parodiert Vaudevilletheater und US-Kultur, d.h. Spionage-Thriller und Actionfilme. Ein mysteriöser Klempner hinter der Badezimmerwand, fliegende Geldkoffer, Balztänze beim Zähneputzen und viel regressiver oder absurder Nonsens machen Dampf und verulken auch die sozialistische Epoche.

    Noch typischer für tschechischen Humor sind die nackten Skifahrer von Bile Divadlo aus Ostrava, die mit ihren Brettern und Stöcken von 1930 über die Bühne staksen. Ihr Erfolgsstück ist einem Buch mit Cartoons (von Martin Velisek) nachempfunden. Sie zeigten es auf Mimos schon 1999, damals outdoor, und nun im Theater. Die Bühne verstärkt ihren absurden Humor, gepaart mit der Natürlichkeit der FKK-Tradition. Allein, so frei sie auch dank Nacktheit sein mögen von sozialer Konditionierung, so sehr stecken in ihnen doch der Schalk des Sadismus, Neid und Konkurrenz. In einem (ethnologisch noch zu analysierenden) absurden Ritual bestritten sie ihren Kameraden der im Wald erfror. Nur der einzige blinde Skifahrer war im Stande, ihn zu finden. Der Rest der Gesellschaft hockte zusammen vor der Glotze.

    Am erschütterndsten in Bezug auf den Gehalt des Daseins ist das Solo von Antonin Novotny, dessen Titel nach dem Sinn des Hundekots fragt. Auf der Bühne dann weder Sinn noch Trost noch Häuflein. In einer Serie kurzer, traumatischer Szenen aus Gesten des Alltags leuchtet er, radikaler als Kafka und Beckett, bis in die dunkelsten Flure der Existenz. In gespenstischer Stille. Ob er da mit einer blutgefüllten Wodkaflasche spielt, sich mit Essenstopf und Löffel herum schlägt, sich mit dem Rasiermesser die Hand aufschlitzt oder, als Höhepunkt, einfach seinen Mantel auf- und zuknöpft. Was sich, in der Aufzählung gerafft, nach viel Aktion anhört ist live allerhöchste Kunst minimalster Gesten und absolut beklemmend.

    Ähnlich düster ist die Performance « Stigmaten » der Dänin Kitt Johnson. Sie führt in eine mysteriöse, dunkle Welt in der sich Debureau, Ausdruckstanz, Futurismus und Butoh kreuzen. Johnson schrumpft, wächst, wird animalisch, erscheint mal schwarz, mal weiss. Ihr starres Gesicht zerfurcht ein Textilgitter, das zur Maske wird ohne es zu verdecken. Stigmaten will sie in Positives verwandeln. Ob das so geht, zu dunkel grollenden Frequenztönen ?

    Materialien aller Art in Kostüme verwandeln, das können die Tänzer, Performer und Bastler des Kollektivs Lynx aus der Schweiz. Sie verfremden die Modenschau zu « Mode ;-) », inspiriert von Schlemmers Triadischem Ballett. Ein Panzer aus Plastikbechern, ein Mantel samt Handtasche aus Kresse die noch auf dem Laufsteg verzehrt wird, ein Schaumbad, Autoreifen, ein transparenter Schlauch in dem Kugeln rollen und andere verrückte Konstruktionen – alles kleidet. Viele Kostüme enthalten mechanische Funktionen, die durch Bewegung aktiviert werden und so verlangt auch jedes Modell nach speziellem Körperspiel.

    Insgesamt machte Mimos 2002 seinem Etikett « Mime moderne » also alle Ehre. Und wer den Preis der Kritik gewann, das enthülle ich auf den Strassentheater-Seiten.

     

    Redaktion: Thomas Hahn

     

     

    2002-12-15 | Nr. 37 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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