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    Au revoir, Pierrot; au revoir, Trottoir!

    Abschied vom Trottoir-Magazin, Abschied von Pierrot Bidon. Der Gründer des Cirque Bidon (1974), des Cirque Archaos (1984) und des Circus Baobab (1998) verstarb im März nach langer Krankheit im Alter von 56 Jahren. Außerdem hatte er noch in Brasilien den Circo da Madrugada und in Großbritannien den Circus of Horror gegründet. Pierrot, mit bürgerlichem Namen Pierric Pillot, gründete auch soziale Projekte im Zusammenhang mit Zirkus sowie Schulen. Seine Studios de cirque in Marseille werden nun weitergeführt von den Mitbegründern Ana Rache und Stéphane Girard. Aber Pierrots korrosive Ideen, seine Poesie, seine Magie werden in der Szene fehlen. Das gilt besonders, wenn man sich anschaut, was in letzter Zeit so auf die Bühne gekommen ist. Vielen fehlt es anscheinend an geistiger Mobilität und Freiheit. Und das ausgerechnet im Zirkus, ein Vierteljahrhundert nach dem Befreiungsschlag durch Archaos! Modern zu sein und gleichzeitig volkstümlich, so wie es Archaos eben immer war, ist eine gewaltige Herausforderung. Es braucht dazu sicher auch ein Team, das an einem Strang zieht, und zwar über Jahre. Auch das scheint seltener zu werden. Woher kommt es, dass Marthurin Bolze sich zum ersten Mal an einer eigenen Idee die Zähne ausbeißt? „Du goudron et des plumes“ heißt sein Stück für fünf Interpreten. Teer und Federn also, aber für wen? Die Ausgangssituation ist eine, die man in letzter Zeit recht häufig findet: Eine Gruppe von Menschen an einem unwirtlichen Ort, ohne dass man wüsste, ob sie schon lange so zusammenleben, sich zufällig getroffen haben, eine Katastrophe überlebten oder was ihnen sonst widerfahren sein mag. Hier hausen sie auf einer schwebenden Plattform, installieren Bretter, die sie elegant umtanzen, hangeln an Lampen. Während ihre Plattform langsam auseinander fällt und die zerbrechenden Gipsplatten ihnen den Boden unter den Füßen entziehen, suchen sie nach Fluchtwegen. Die Plattform wird zum schlingernden Schiff, die Akrobatin rettet sich ans Seil. Viel Aufwand, vor allem für das Bühnenbild, aber im Ergebnis wenig Packendes. Da wirkt alles künstlich und demonstrativ, während wir doch von Bolze so organische Auftritte gewöhnt sind. Der ist bekannt für seine großartige Technik am Trampolin, und die war oft das fremdartige Element in den exzellenten Tanzstücken von François Verret. Hier versucht sich Bolze nun selbst als Choreograf und lässt das Trampolin gleich ganz draußen. Schön hat er uns da genarrt, die wir ganz sicher waren, dass sich in dem Karree, das von der Decke schwebte, unmöglich etwas anderes verbergen konnte als eben ein Trampolin. Ganz anders, weil zielstrebig und effektiv, agieren Bolze und sein Partner Hedi Thabet in „Ali“. Das begnadete Duo braucht nur einen Stuhl und zwei Paar Kücken, um in einer halben Stunde mehr zu sagen als die Fünf in „Du goudron et des plumes“ in dreimal so viel Zeit. Alles über die Intensität einer Beziehung zwischen Verschmelzen und Trennung, Geselligkeit und Einsamkeit. Auch für Kinder zu empfehlen, die hier eine Menge mitnehmen (www.mpta.fr).

    Ähnlich Boden-los wie auf Bolzes schwebender Plattform geht es zu bei Camille Boitel. Der bei Annie Fratellini ausgebildete Akrobat will in „L’immédiat“ (Unmittelbar) darüber nachdenken, wie sich der Mensch verhält, wenn ihm nur der Augenblick selbst bewusst ist. Im Leben entspricht das, mehr oder weniger, zwei Zuständen: Zum einen der Kindheit und zum anderen einer Katastrophensituation, in der keine Zeit zum Nachdenken bleibt. Beides findet hier zusammen. Es ist, als stürmten sechs Kinder den Dachboden ihrer Großeltern. In der apokalyptischen Rumpelkammer aus Hunderten von Möbelstücken, Filmdosen, Besen und Kanistern („bidon“ heißen die auf Französisch!) entsteht eine Dramaturgie aus Flucht und Schwebezuständen und der Katastrophe. Stuhl, Bett, Fenster, Schrank und mehr brechen zusammen, sobald jemand sie auf reguläre Art benutzen will. Da bleibt dann nichts anderes, als zu springen und so im nächsten Zusammenbruch zu landen, und wieder zu springen ... In dieser Augenblicklichkeit kann keine Psychologie der Figuren entstehen. Es geht allein um deren Jetztzustand. Und das ist eben Zirkus. Allein, in der Entwicklung des Stücks war von Augenblicklichkeit nichts zu spüren. Im Gegenteil, zehn Jahre trug Boitel das Projekt mit sich herum. Die letzten zwei Jahre widmete er sich intensiv seinen Recherchen. In Anlehnung an Buster Keaton und Kafka wollte er das Rad des Zirkus neu erfinden. Das ist so naiv wie die Kindsfiguren in „L’immédiat“, so tragikomisch wie der Umstand, dass die Uraufführung direkt nach dem Erdbeben auf Haiti stattfand. Wer je ein Erdbeben erlebte, dem wird hier sein Trauma wieder wachgerüttelt. Wer nicht, der wird die Figuren mit Keaton und den anderen Mimen vergleichen, auf die Boitel sich hier beruft, und er wird an dem Qualitätsunterschied verzweifeln.

    Seinen eigenen Weg gefunden hat dagegen Johann Le Guillerm. Den verfolgt er Jahr für Jahr, wie auf dem Weg zu einem Lebenswerk. Sein Stück „Secret“ (Geheimnis) entwickelt sich ständig weiter, in dem Maße, wie sich seine Installation „Monstration“ und seine Ausstellung „La Motte“ verändern. Sein Cirque ici ist eben immer „hier“, und dabei ständig unterwegs zu neuen Träumen und Geheimnissen. Le Guillerm ist wie ein Wissenschaftler, der seine Forschung immer weitertreibt, sodass der Fortschritt selbst das eigentlich spannende wird. Das war bei Pierrot Bidon und seinem Motorrad-Zirkus ganz ähnlich. Das Gute an Le Guillerm: Er bleibt berechenbar und daher ein Trumpf für Förderer. Die Kulturstiftung der Bank BNP Paribas greift ihm seit Urzeiten unter die Arme und der Staat schickt ihn gerne ins Ausland. Das schafft dieses gewisse Etwas im Image, diese Verbindung von Kunst und Wissenschaft, von Rationalität und Mystik, in der sich Zukunft und Vergangenheit zu verbinden scheinen. Sich von der Augenblicklichkeit zu befreien, das schafft eben Stabilität. Bonjour, Herr Boitel!

    Aber einen Anwalt findet Boitel schließlich doch noch, und zwar in Bernard Kudlak, dem Gründer des Cirque Plume (s. Trottoir Nr. 65). Der kann zwar nichts über Teer oder Federn sagen, aber er führt aus, wie Zirkus „Die Kindheit der Welt zurück auf die Bühne bringt“, und zwar in einer englischsprachigen Sonderausgabe der französischen Zeitschrift Stradda. Die enthält weiter Überlegungen zu Festivals, Netzwerken, einen Überblick über die Zirkuslandschaft in Skandinavien von Tomi Purovaara, ein Porträt von Philippe Ménard (s. Trottoir Nr. 64) und eins des No Fit State Circus. Die Ausgabe mit dem Titel „Circus and Street Arts“ enthält ferner ein Special über Outdoor-Tanz, wo natürlich auch einige Kompanien erwähnt werden, die ich hier im Trottoir-Magazin in den letzten Jahren in der Rubrik Straßentheater vorstellen konnte, so auch Les Antipodes in diesem Heft. Wer aber in Zukunft den zeitgenössischen Zirkus verfolgen will, der muss halt fremdsprachige Quellen anzapfen oder direkt auf die Festivals fahren. Und von denen gibt es immer mehr (www.horslesmurs.fr).

    Redaktion: Thomas Hahn


    2010-06-15 | Nr. 67 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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