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    Berlin im Herbst - Die Mauer ist weg...

    Kaum zu glauben, dass es schon 25 Jahre sind, seitdem diese merkwürdige Aneinanderreihung von Fertigteilen aus Beton und viele uniformierte Männer mit Waffen dafür gesorgt haben, dass die Deutschen einander fremder waren als den anderen Nachbarn. „War das hier Osten oder Westen?“ ist noch heute eine beliebte Frage bei Berlin-Besuchern, die eine interessante Ecke der Stadt entdecken. In der Kleinkunst sind die Grenzen längst vergessen. In fast allen Ecken der Stadt gibt es irgendwo ein winziges Kneipen-Hinterzimmer, wo immer mal wieder jemand Tucholsky rezitiert und Brecht/Weill oder Holländer vorsingt, in der östlichen wie der westlichen City gibt es Kabarettinstitutionen, die sich gemächlich die Politiker vorknöpfen, im Westen wie im Osten der Stadt gibt es offene Bühnen, wo man die Stars der kleinen Form ganz unspektakulär beim Ausprobieren treffen und sich mit den Stars von morgen an der Bar betrinken sieht. Und es lohnt sich, sie alle zu entdecken.

    So richtig tief im Westen, nicht weit vom Bahnhof Zoo, liegt die Kleine Nachtrevue, das vielleicht kurioseste Theater der Stadt. In einem einstigen Animierlokal hat die ausgebildete Choreographin und artbild_350_Sylvia_SchmidTänzerin Sylvia Schmid (Bild) dort vor ebenfalls fast unglaublichen 22 Jahren angefangen, eine ganz eigentümlich schillernde Mischung aus Tanztheater, Striptease und Nackttanz auf die Bühne zu bringen. In jüngster Zeit sind auch Burlesque dazu gekommen. Doch nicht Ironie steht bei Schmid im Vordergrund. Sondern ihre beiden ernsthaften Leidenschaften, die sie als Hausherrin souverän und als Künstlerin überzeugend jeden Abend verbindet: Künstlerischer Bühnentanz und die Erotik von Exhibitionistin und Voyeur. Vor nicht allzulanger Zeit hatte ihr neues Programm „Der nackte Schwan“ Premiere und wer Berlin besucht, sollte es sich nicht entgehen lassen.

    Ebenfalls mit großer Leidenschaft und unermüdlicher Energie setzt sich Chansonnier Boris Steinberg seit Jahren für das Berliner Chansonfest ein, das 2014 bereits zum 19. Mal stattfindet. Diesmal hat Steinberg allerdings Kummer: „Es gibt so gut wie keine Öffentlichkeit mehr, weder Senat noch Presse - man muss also nach dem Fest und deren Künstler wieder suchen“, schreibt er in seinem Newsletter. Doch nicht mit Trottoir: Das 19. Berliner Chansonfest findet vom 23. – 25. Oktober 2014 auf der Corbo Kleinkunstbühne statt und wird eröffnet mit Auftritten von Manuela Sieber, Boris Steinberg – und Manfred Maurenbrecher, für den einst das Wort „Urgestein“ wohl erfunden wurde. Alle weiteren Informationen und das sehenswerte Programm unter Chansonfest-Berlin. Auch die Corbo Kleinkunstbühne imartbild_NN350_FENDEL_Boris_ Bezirk Treptow – ehemaliger Osten – ist übrigens ein typisches Erzeugnis der kreativen Energie, die Berlin seit dem Mauerfall entwickelt hat: vielleicht nicht mit dem ganz großen Geld ausgestattet, dafür aber mit Herzblut, Leidenschaft und Entschlossenheit liebevoll bespielt. Gerade hat sie ihre 5. Saison angetreten und gilt schon fast ebensolange als Institution. Geleitet wird die Bühne von zwei Künstlerinnen, Lisa Zenner und ihrer Partnerin, die nur dieFENDEL (Bild) genannt werden möchte. Beide treten auch selbst gerne bei sich auf. Wer übrigens selbst Ambitionen zum Singen oder Schauspielen in sich fühlt, der kann hier tagsüber neuerdings Schauspielunterricht nehmen – bei der Fendel höchstpersönlich.

    Schon längst fertig ausgebildeter Schauspieler ist artbild_300_Thomas_Pigor_YaThomas Pigor (Bild), der ebenfalls einen wesentlichen Anteil am Erfolg des modernen deutschsprachigen Liedes auf deutschen Kabarettbühnen hat. Zusammen mit seinem musikalischen Dauersklaven Benedikt Eichhorn gibt er ihm ein eigenes Gepräge, das er „Salon Hip-Hop“ nennt. Außerdem schreibt er schon seit über vier Jahren im Auftrag des Südwestrundfunks ein „Chanson des Monats“, in dem er auf aktuelle Ereignisse eingeht. Im Dezember wird Chanson Nummer 50 erscheinen. Darauf muss man nicht nur kommen – das muss einem auch erst mal jemand nachmachen. Bereits im Herbst wurde übrigens die Veröffentlichung seiner neue CD mit dem Titel „Pigor singt und Eichhorn muss begleiten – Volumen 8“ gefeiert. Stellen wir uns das mal vor – als 1995 Volumen 1 erschien, stand fast die Mauer noch. Jedenfalls in den Köpfen.

    Ungefähr zur gleichen Zeit hatte eine junge Berlinerin mit Rastalocken einen Hit in den Charts: „Weil ich ein Mädchen bin“ kiekste Lucy van Org und wurde damit zu einem richtigen One-Hit-Wonder. Das Unbedarfte hat sie bald danach abgelegt, und sich stattdessen in der Fetischszene der Hauptstadt eingerichtet. Dort wurde sie quasi vom Mädchen zur Herrin. Aber Künstlerin ist sie geblieben: Außer gelegentlichen Drehbüchern hat sie 2013 unter dem Titel „Frau Hölle“ auch ihren ersten Roman veröffentlicht und tritt vor allem seit ein paar Jahren erfolgreich mit ihrem Düsterduo Meystersinger in ganz Deutschland auf – und als Szenestar in Berlin.

    Auch Wiglaf Droste, viele Jahre lang Wahlberliner aus dem Westbezirk Kreuzberg, ist ein Wortkünstler, der seine ersten großen Erfolge im frisch wiedervereinigten Deutschland feierte, das er entschlossen kritisierte. Dann verlegte er sich auf die Musik, und als er auch da alles gesagt zu haben schien, wurde es etwas ruhiger um ihn. Nun legt er ein neues Buch mit dem Titel „Schalldämpfer“ vor. In einem kleinen Revue-Programm stellte er es im Oktober in der Bar jeder Vernunft lesend und zusammen mit seiner Band singend vor. Seinem Sendungsbewusstsein ist er übrigens treu geblieben. Nachdem er in der Zeitschrift „Häuptling eigener Herd“ zusammen mit dem Koch Vincent Klink ein paar Jahre lang nachdrücklich den Slow Food propagiert hatte, wirbt er nun für das leise Leben. Und wer könnte das besser als einer, der zu Zeiten gerne laut und mit der großen Kelle auszuteilen wusste?

    Kehren wir zum Schluss in den tiefen Westen zurück – und mehr Berliner artbild_142_Desiree_NickWesten als Desirée Nick (Bild) geht bekanntlich nicht. Die vielseitige Kodderschnauze ist im November wieder einmal im Tipi am Kanzleramt zu Gast – übrigens einer der Spielorte, die nicht weit von da entstanden sind, wo einst Menschen auf dem Todesstreifen ihr Leben riskierten und verloren. Wie seit ein paar Jahren üblich, hat das Nicksche Wortschaffen einen unübertrefflich groben Titel, diesmal hat sie sich für „Retro-Muschi“ entschieden. Wem das irgendwie zu masochistisch ist, der hat seit diesem Herbst die Chance, Desirée Nick in einer ganz neuen und möglicherweise etwas gemäßigteren Rolle zu sehen: als Verkäuferin ihrer eigenen Schmucklinie auf QVC. Warum auch nicht? Die zähe Entertainerin hat ein Kind zu ernähren und keinen Ruf zu verlieren. Und wie allgemein bekannt sein dürfte, gibt es beim Verkaufsfernsehen ja oft die beste – wenn auch nicht immer freiwillige – Komik zu sehen. 

     

    | Ausgewählte Termine: Berlin

    Redaktion:
    Susann Sitzler

    Bild Thomas Pigor: Yannick Perrin  

    2014-11-05 | Nr. 84 | Weitere Artikel von: Susann Sitzler





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