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  • Szenen Regionen :: Berlin

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    Dunkle Wolken und Verwirrung der Sinne


    Berlin im Dauer-Frühling, der sich anfühlt wie ein echter Herbst. Aber deshalb gleich traurig werden?


    Einmal Rampensau

    artb_610_Gala_der_RampensaeNein - gute Laune bewahren. Es gab genug Gelegenheiten. Die große "Gala der Rampensäue" beispielsweise. Die „Wühlmäuse“ organisierten die Feier für die Agentur „Rampensau“ in der Universität der Künste. Die Künstler waren „widerborstig und speck-takulär“, wie das Motto der Agentur Rampensau. Und „schweinisch gut“: Pigor & Eichhorn, Horst Evers, Désirée Nick, Martina Brandl, Kay Ray, Frowin, Quasthoff & Kilian und viele weitere Künstler aus dem Rampensau-Stall. Agentur-Gründer Susanne Stallmann und Gerhard Winterle, einst umjubelte Akteure der "Preddy Show Campany", betreiben ihre Agentur seit 20 Jahren. Die Aufmerksamkeit des Duos gilt vor allem dem musikalisch - komödiantischen Bereich. Ina Müller führte durch den Abend, und war nach drei Stunden Programm – wie das Publikum – am Ende dann doch ein bisschen erschöpft angesichts solch geballter komödiantischer Künstlerkraft. Und danach ging die Party erst richtig los.

     

    Wiedersehen macht Freunde

    Genauso alt wurde dieses Jahr die „Reformbühne Heim & Welt“. Seit 20 Jahren treten die tapferen Vorleserecken der Reformbühne Heim & Welt an jedem Sonntag ans Mikrophon, um mit frisch verfertigten Texten und Liedern dem Geist der Zeit und den Gespenstern des Alltags entgegenzutreten. Die Auftrittsorte haben gewechselt, jetzt ist die Reformbühne in eine spektakuläre Panorama-Lounge hoch über die Dächer der Stadt gezogen und präsentiert jede Woche neu ihre Anamnese alltäglicher Absonderlichkeiten, dazu aktuelle Kampfaufrufe zur Revolution. An den vier Juni-Sonntagen feierten sie ausgiebig mit Ehemaligen unter dem Festtags-Motto: "20 Jahre Reformbühne – Wiedersehen macht Freunde".

     

    Genies im Morgenrock

    artbild_350_pigorUnd seit 20 Jahren und acht gemeinsamen Programmen sind auch Pigor und Eichhorn zusammen, die uns mit musikalischer Genialität und bösen satirischen Texten erfreuen und durcheinander rütteln. Mit Eleganz klappern sie alle Musikgenres ab, „das hier ist Salon Hiphop des 21. Jahrhunderts“, und bekriegen sich gegenseitig auf der Bühne. Es ist zwar schon 20 Uhr in der Bar jeder Vernunft, aber für die beiden ist noch Matinée, deshalb sitzen sie in herrlich altmodischen Morgenmänteln auf der Bühne der Bar jeder Vernunft, singen über die erniedrigten Männer, die mit Damenhandtaschen in Einkaufszentren auf ihre Partnerinnen warten, über den leisesten Airport der Welt – den BER nämlich – über Gastgeber, die zur Furie werden, weil die Gäste immer viel zu früh kommen und dann auch noch in der Küche helfen wollen. Und es gibt zahlreiche 3-Minuten-Exkurse: zu Richard Wagner, zur Geschichte der doppelten Buchführung – besonders hier und in der Frage, wie man „buchhalterisch“ betont, kann Eichhorn sein ganzes Talent zeigen. Und wahrscheinlich Welt-Premiere: das Publikum wird zu einem dreiminütigen Power-Nap eingeladen, das Licht geht aus, wir dösen gemeinsam und freuen uns auf den Rest des Programms. Im Juli bekommen die beiden den Bayrischen Kabarettpreis, und ob sie den verdient haben, muss man sich schon lange nicht mehr fragen.

     

    Unser bester Demotivationstrainer

    artb_350_Nico_SemsrottJa, gut, Geburtstage feiern ist was Schönes. Aber warum kommt denn der Sommer jetzt nicht nach Berlin? Trübe Gedanken kommen auf beim Anblick der gnadenlosen Grauwetterfront.

    Aber lohnt sich Depression wirklich? Ja, sagt Nico Semsrott in seinem 90minütigen Vortrag “Freude ist nur ein Mangel an Information” im Mehringhoftheater. Mithilfe von Putzig-Positiven Powerpoint-Präsentationen versucht er die Zahl der Depressiven in Mitteleuropa zu verdoppeln. Der Mann mit der Kapuze ist angetreten, uns den letzten Rest zu geben. Als Vorbild im Scheitern sieht er sich und legt es uns ans Herz: Wer früh aufgibt, kann Anderen beim Verlieren zugucken. Vielleicht hat er ja Recht.

     

    Noch mehr Schmerzen

    artbild_180_John_DoyleDeutschland also – Land der Depressionen? John Doyle ist Amerikaner, spricht lupenreines Deutsch und erzählt im Quatsch Comedy Club, erst durch Krankheiten habe er in Deutschland Freunde gewonnen. Allerdings geht es hier eher um Rückenschmerzen als um seelische Schmerzen.

    In seiner kurzweiligen Show „Die Welt ist eine Bandscheibe“ erzählt er in einem beeindruckenden Sprechtempo von seinem ersten Beckenbodentraining und Walken am Stock, erzählt von am eigenen Körper erlebten „Fleischwanderbewegungen“ und rechnet aus, wie viel Kalorien beim Onanieren draufgehen (zur Info: 150). Wieder was gelernt.





    Çevikkollu tut weh

    Etwas nachhaltiger wirkt das neue Programm „Fatih Tag“ von Fatih Çevikkollu. „Postmodern, postmigrantisch und postdemokratisch“. Von Anfang an provoziert Cevikollu sein Publikum. „Ja“, sagt er, „ihr habt wahrscheinlich gedacht, jetzt geh ich mal zum lustigen Türken, da gibt es Döner für den Kopf!“. Nein, das Publikum in den Wühlmäusen weiß Bescheid – das hier wird etwas anstrengender-  und darf sich dann einen ganzen Abend lang mit eigenen Klischee-Vorstellungen beschäftigen. Fatih Cevikkollu karikiert das deutsch-deutsche Bildungsbürgertum, das den migrantischen Komödianten wie einen Hofnarren vortanzen lässt - „So spiele er auf!“ – und erklärt dass es in Deutschland keine Revolutionen mehr gebe, weil einfach die Formulare dafür fehlten. Scharfzüngig ist er, Fatih Cevikkollu. Egal, ob er sich als „fieser Möpp“- Immobilienhai, der nur an Hartz-IV-Empfänger vermietet, verdingt, über Pannen im Verfassungsschutz spricht oder erklärt, dass jedes Hamsterrad von innen wie eine Karriereleiter aussehe. Hier werden politische und soziale wunde Punkte so aufgezeigt, dass es weh tut. Zum Abschluss wird er dann etwas verträglicher. Es geht um seine Tochter, um bilinguale Erziehung, aber auch um die deutschen „Dinkel-Dominas mit ihren Versorgungsstationen“ auf dem Spielplatz. Deutschland – wir erkennen uns wieder.


    Menschen und Puppen

    artb_350_chamaeleon_dummylaSich gegen schlechte Laune mal den Kopf leer gucken? Im „DummyLab“ im Chamäleon Varieté gelingt das relativ schnell. Die Regisseure Eike von Stuckenbrok und Markus Pabst haben mit einem hochkarätigen Cast eine Inszenierung geschaffen, die dem Wechselspiel zwischen Mensch und Puppe (dem „Dummy“) eine anrührende wie sinnlich verstörende Dimension verleiht. Der Designer Frieder Weiss hat neue interaktive Videodesigns geschaffen, die mit den artistischen Darbietungen zusammenfließen. Im Zusammenspiel mit dem neu komponierten Live-Soundtrack des Berliner Musikproduzenten und Sängers Reecode und der australischen Komponistin und Cellisten Lih-Qun Wong zeigt „DummyLab“, wie klassische Genregrenzen überwunden werden können.



    Dem Charme des Zauberers erliegen

    artbild_200_ZA_TeddyOder mal Dinge anschauen, die man nicht versteht und sich darüber Gedanken machen? Noch dazu, wenn ein ungemein charmanter Mann einem den Geist verwirrt? Christian de la Motte bietet nicht nur eine tolle Show, sondern spielt mit dem Publikum, weiß genau, welchen Menschen aus dem Publikum er in welcher Nummer gut gebrauchen kann. Ist das jetzt Menschenkenntnis oder schon Mentalmagie? Jedenfalls befinden wir uns in einem Raum, deren Regeln de la Motte von nun bestimmen wird. „Realität kann jeder“ so das Motto des Zauberers, das hier kann nur er. Und wir lassen uns darauf ein, denn der „Zauberer“ wird uns im Laufe des Abends durch seine humorvollen Moderationen immer sympathischer. Da ist es egal, wenn mal was schiefgeht oder es ist sogar gut, dass mal was schiefgeht, denn dann ist es so wie in unserem Leben auch. Er hätte ja für 10.000 Dollar in Las Vegas auftreten können, erzählt er uns, aber er habe das Geld einfach nicht zusammen bekommen, deshalb sei er heute im Umspannwerk Ost. Uns soll es Recht sein. Kartentricks, chinesische Ringe, Hütchenzauber, all das ist nicht an sich nichts Besonderes, fügt sich in seiner Show aber unterhaltsam in ein Ganzes ein. Christian de la Motte bringt unsere Wahrnehmung durcheinander und lügt uns berufsbedingt an, aber wir verzeihen ihm gern.



    Das reale Leben

    Wieder in der Realität angekommen, geht man dann zu Dr. Seltsams Wochenschau zum Thema „Gentrifikation und Gegenwehr“, hört von 11000 Zwangsräumungen jedes Jahr in Berlin, denn Mietenerhöhung werde angesichts sinkender Zinsen die letzte Hoffnung der Kapitalanleger. Wir könnten sicher sein: es werde schon irgendwo berechnet, was aus uns "rauszuholen" sei. Also doch Herbstdepression? Nein, vielleicht nur Zeit sich zu wehren. Ob im realen Leben oder auf der Bühne.

     

    Redaktion: Katrin Schielke   


    Bildnachweis:
    Rampensau Foto:Claudius Pflug
    Pigor & Eichhorn Foto: Yannick Perrin
    Nico Semsrott Foto: Romy Strasser
    John Doyle Foto: Jochen Balke
    Chamäleon Variete Foto: Carolin Saage
    Christian de la Motte Foto: Marek Kucera


     
    2015-06-30 | Nr. 87 | Weitere Artikel von: Katrin Schielke





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