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    Extravaganzen und anderer Zauber

    Eindrücke von den Herbst-Varietéprogrammen in Stuttgart und Backnang

    Am 23. November wäre Oscar Heiler, dessen unverwechselbare und originelle Persönlichkeit mit „Staatsschauspieler, Humorist und Komödiant“ nur unzureichend beschrieben wird, 100 Jahre alt geworden. Sein Name wird meist in Verbindung mit Willy Reichert und den Sketchfiguren Häberle und Pfleiderer genannt. Über 40 Jahre lang spielten die beiden über 100 Häberle-und-Pfleiderer-Sketche, mit denen sie maßgeblich dazu beitrugen, die Sprache Schwäbisch auch auf Profibühnen salonfähig zu machen. Anfang der dreißiger Jahre kamen sie vom Schauspielhaus Stuttgart über die Kleinkunstbühne Excelsior an den Friedrichsbau, der unter der Direktion von Emil Neidhart damals zu den besten Varietétheatern Deutschlands zählte; Willy Reichert war Co-Direktor und Oscar Heiler übernahm die Bühnenleitung. Die Programmillustrierten des heutigen Friedrichsbau erinnern auch immer gerne in Wort und Bild an die beiden, und vor dem Theatereingang steht eine Häberle-und-Pfleiderer Bronze-Skulptur. Oscar Heiler konnte 1994 etwas mehr als ein Jahr vor seinem Tod sogar noch die Wiedereröffnung des Friedrichsbauvarietés auf der Bühne mitfeiern! Trotzdem fanden jetzt die Gedenkveranstaltungen alle an anderen Orten statt. 2 kleine aber feine Ausstellungen ganz in der Nähe der Wohnung Oscar Heilers in Stuttgart-Gablenberg: „Links und frei - anders als Häberle“, eine Ausstellung über den politisch engagierten Bürger Oscar Heiler, und „mehr als Häberle - Oscar Heiler auf der Bühne“, sowie mehrere Vortrags- und Lese-Veranstaltungen und Filmvorführungen.

    Zugegeben; Der Typ Schwabe, den Oscar Heiler so nachhaltig und eindrucksvoll spielte und lebte, ist am Aussterben. Dennoch denke ich, dass ein kleineres, vielleicht eher literarisch orientiertes Varietéprogramm sozusagen im Geiste Oscar Heilers gestaltet und mit kürzerer Laufzeit etwa im Rahmen des Sommervarietés durchaus erfolgreich laufen könnte. Vielleicht ließe sich Uli Keuler, der über Häberle und Pfleiderer promoviert hat, und der selbst mit einem Geschichtenprogramm durch das Land reist, dessen Helden über einen ganz analogen schwäbischen Sprachwitz verfügen, für ein solches Projekt gewinnen. Einige „moderne“ Häberles und Pfleiderers gibt es auch, die neue Szenen erfinden oder alte für ihre Zwecke erfolgreich adaptieren. Und schließlich verfügt der heutige SWR (damals noch SDR) über Archivmaterial, das eine Wiedervorführung wirklich nicht zu scheuen braucht! Was jetzt nicht war, kann ja noch werden...

    Apropos Oscar Heiler: In seinem Bändchen „Bekenntnisse des Komödianten Oscar H.“ erzählt Oscar Heiler vom Neuanfang der Unterhaltungsbranche nach dem 2. Weltkrieg und wie in seiner allerersten Vorstellung nach der Kapitulation Ende Mai 1945 im Bahnhofshotel in Ludwigsburg mit Tänzerinnen und Zauberern und eben Oscar Heiler auch ein junger, völlig unerfahrener Tenor die Bühne betrat und Operettenmelodien sang: Wolfgang Windgassen! Daran musste ich denken, als ich mir überlegte, welcher Programmteil in Michael Holderrieds Herbstvarieté „Extravaganzen“ in Backnang für mich am überraschendsten war. Denn dadurch zeichneten sich die bisherigen Backnanger Programme alle aus: Die beinahe unerschöpfliche Phantasie des Hausherren, wenn es um Überraschungsmomente im Programmablauf geht. Die gehören zu einem gelungenen Varietéprogramm wie das Salz zur Suppe! In „Extravaganzen“ war diese Überraschung zweifellos der Tenor Helge Thomas. Mitgebracht hatte ihn Silvia Licht, um ihre Kristallkugel-Kontakt-Jonglage durch Gesang begleiten zu lassen (Zweitnummer: Diabolo zu Tonbandmusik), was dieser an sich schon recht seltenen, sehr ästhetischen Nummer zu noch mehr Besonderheit verhalf. Und Michael Holderried erkannte sofort die Chance, auch einmal einer Opernstimme einen extra Gesangsblock in einem Varietéprogramm einzuräumen. Dem Publikum und mir gefiel’s.

    Weitere „Extravaganzen“ waren Nicky Vivas Balancen mit Alltagsgegenständen, die zauberhaften Seifenblasen seiner Partnerin Spectra und die gemeinsame Illusion sowie Bauchredner Pierre Ruby jun., der teils mit mitgebrachten Figuren und teils mit Zuschauern arbeitete und auch die Rolle des Conferenciers übernahm. Hochkarätige Zauberer sind in Backnang keine Überraschung mehr sondern eigentlich schon selbstverständlich, aber immer wieder begeisternd. Diesmal waren dabei Flip aus Holland und Les Cattarius, die dann doch dadurch überraschten, dass sie an ihrer eleganten, „aristokratischen“ Tier-Zauberei festhielten. Bleibt zu hoffen, dass sich künftig die völlig überzogenen Spendensammel- und Tränendrüsenkampagnen einiger militanter Tierschützer gegen Schautiere im allgemeinen auf die wenigen wirklichen schwarzen Schafe in der Branche beschränken. Wie sehr das Publikum solche Darbietungen liebt, bei denen ansatzweise so etwas wie eine Tier-Mensch-Beziehung spürbar wird (obwohl natürlich bei einer Zaubernummer im Gegensatz zu einer Circusmanegen-Dressur der Requisitencharakter der Tiere nicht zu übersehen ist), zeigte sich am Applaus. Ähnliches ist auch vom Friedrichsbau zu berichten, wo in der Stuttgarter Version der Show „Zauber Zauber“ der junge Jay Niemi aus Finnland mit seinen Tauben und frei durch den Zuschauerraum fliegenden Papageien den nachhaltigsten Eindruck beim Publikum hinterließ. Die zweite Tiernummer der „Zauber Zauber“-Show, Boiarinov mit seinem Elefanten-Hund bzw. Hunde-Elefanten, ähnelte schon eher einer Circusdressur.

    Die neueste Friedrichsbau-Produktion hört auf den Titel „La Metta“ und kommt unter der bewährten Regie von Simon Kühr wieder ganz klassisch ohne Tiere aber mit viel Spitzen-Artistik daher. Das Duo Deltai (Kraftakrobatik liebten die Stuttgarter schon immer ganz besonders) zeigt unerreichte Hand-auf-Hand-Tricks, meist im Zeitlupentempo; Andrea Engler, Absolventin der Staatlichen Schule für Artistik Berlin, wiederholte ihren großen Erfolg vom Winter 2004 am roten Vertikaltuch; Axel S. beherrscht perfekt bis zu 3 Diabolos, glänzt aber besonders mit den roten Linien- und Kurvenmustern seiner Leuchtdiabolos (Stuttgarter denken bei seinem Auftritt etwas wehmütig an den leider seit einigen Jahren eingestellten Wettbewerb ShowstArt, den er einst gewann); das Trio Giurintano lässt mit seiner halsbrecherischen Rollschuhartistik auf kleinstem Raum den Atem stocken und Altmeister Dieter Tasso mit seiner Comedy-Tassen-und-Kannen-Jonglage wird immer komischer und zeigt, wie Person und Nummer zu einer Einheit verschmelzen können. Das Duo Petrosyan wechselt zwar rasend schnell die Kostüme, getrieben von Disco-Beat-Musik, lässt aber mindestens bei älteren Zuschauern den Wunsch nach einem etwas anderen Rhythmus dieser auch tänzerischen Darbietung aufkommen. Mit Schwarzlichttheater, das immer dann am meisten überzeugt, wenn es ins Groteske ausartet, erfreuen Ivan und Nadja unter dem Namen Blackwitz. Wie schon öfter im Herbst-Weihnachtsprogramm ist das Friedrichsbau Varieté Orchester unter Leitung von Schlagzeuger Rainer Kunert wieder auf 5 Mann aufgestockt. Zusammen mit der in New York aufgewachsenen Musical-Sängerin Yamil Borges, die deutsch-englisch durchs Programm führt, hauptsächlich aber farbenreich und ausdrucksstark, manchmal leicht forciert, singt, ist diesmal die Musik der rote Faden, weshalb das Orchester das ganze Programm über auf der Bühne plaziert ist. So werden seine Qualitäten als Show- und nicht nur als Begleitorchester angemessener wahrgenommen. Dort, wo das Orchester sonst sitzt, wird in einer kleinen Ausstellung an den Stuttgarter Fotografen und Redakteur der Mode-Zeitschrift „Elegante Welt“ Reinhard Seufert (1924-2004) erinnert, der mit Kristallschmucksteinen von Swarowski viele Revue-Schmuckstücke und Revue-Kostüme in aufwändiger Handarbeit herstellte. Die Ausstellung kommt allerdings kaum zur Geltung. Man müsste vielleicht mit ganz kurzen Führungen vor den Vorstellungen und in der Pause etwas deutlicher darauf hinweisen.

    Abschließend möchte ich noch - und damit schließt sich der Kreis wieder zu Backnang - auf eine Stuttgarter Programm-Überraschung hinweisen. Andrea Engler hat eine Hula Hoop-Darbietung als Zweitnummer einstudiert, die jetzt im Friedrichsbau Premiere hatte. Dazu singt Yamil Borges, wobei unklar bleibt, wer wen begleitet.

     

    Redaktion: Manfred Hilsenbeck

     

    2006-12-15 | Nr. 53 | Weitere Artikel von: Manfred Hilsenbeck





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