Am Donnerstagabend des 05. September 2002 herrscht reges Treiben im Hof der Hauses Nummer 18, Rue de la Glaciére in Brüssel. Compagnien treffen ein, Wohnwagen werden plaziert, die letzten Vorbereitungen für das 3. Festival „C’est du jamais vu!“ laufen auf Hochtouren. In den kommenden zehn Tagen werden 114 Einzelkünstler und Compagnien aus den Bereichen Circus, Clown, théâtre physique & théâtre d’objets, Tanz, Strassentheater und Musik ihre aktuellesten Arbeiten zeigen.
Dieses Festival verdient zu Recht die Einordnung ein Festival der Künstler zu sein. Das Konzept ist darauf ausgerichtet, den Stand der eigenen Arbeit vor Publikum zeigen und erproben zu können und in den Austausch zu treten. Und das Konzept geht auf ! Sehen und gesehen werden nicht als Markt der Eitelkeiten sondern als inspirierende Begegnung.
Ausgerichtet wird das Festival vom Team des Espace Catastrophe. Das Aus- und Weiterbildungszentrum für Artisten mit Sitz in einer ehemaligen Eisfabrik in Brüssel-St. Gilles ist auch Geburtsstätte verschiedenartiger Festivals. Das Festival „Piste de Lancement“ zum Beispiel ermöglicht es den Artisten „Rohlinge“ ihrer derzeitigen Arbeit und Ideen zu zeigen, beim „C’est du jamais vu!“ gibt es fertige Produktionen zu sehen, die noch nicht oder in Belgien noch nicht oft genug gezeigt wurden. Die konzeptionellen Zielsetzungen der Festivals lassen spüren, dass Catherine Magis, die Gründerin des Espace Catastrophe und einige der haupt- und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen selber Artisten sind und den Wunsch nach Kreation und Innovation im Circus in den Mittelpunkt stellen.
Diese Jahr fand „C’est du jamais vu!“ erstmalig nicht in den Räumen des Espace Catastrophe statt, sondern an vier Spielstätten im Zentrum von St. Gilles. Das Parvis de St.-Gilles für die Open Air Vorstellungen, das gerade frisch renovierte Maison du Peuple, das Centre Culturelle Jacques Franck und die Pianofabriek liegen keine zehn Minuten Fußweg auseinander. Die Zuschauer konnten also mühelos von einer Veranstaltung zur anderen gelangen. Um den unterschiedlichen Disziplinen und Spielformen gerecht zu werden, gab es verschiedene Typen von Veranstaltungen. In den „Séance unique“ wurden komplette Stücke einer Compagnie oder eines Einzelkünstlers gezeigt, die „Séance couplée“ fassten kürzere Acts verschiedener Künstler zu einem Gesamtprogramm von 75 Minuten zusammen und beim allabendlichen „Pêle Mêle Catastr’Off“ gab es für spannende und unterhaltsame 90 Minuten Programmausschnitte und Einzelnummern von maximal acht Minuten zu sehen. Da wurde eine Vielfalt an Ideen und Kreationen geboten, die aus Platzgründen hier nur in Ausschnitten wiedergegeben werden kann.
Fangen wir bei den Jongleuren an. Eine Überraschung folgte hier der Anderen, was alles möglich ist, wenn die Technik nicht vorgeführt sondern zu Gunsten des Spiels genutzt wird. Selten habe ich so viele Jongliernummern gesehen, die tänzerisch-spielerisch Geschichten erzählen. In „Bistro“ spielen die drei Jongleure der Compagnie Olof Zitoun begleitet von zwei Musikern mit Flaschen und Gläsern und treffen zielsicher die Stimmungen eines nächtlichen Kneipenbesuchs kurz vor der Sperrstunde. Jive tanzt in seiner „Sonate en Pirouette Mineure“ mit drei Keulen zu Violinenmusik im Tangostil. Stephane Gentilini arbeitet in „Pluie“ ebenfalls mit drei Keulen und lässt sich von und mit ihnen durch den Raum tragen. Gerade diese beiden Jongleure zeigen, dass sie die Technik ohne Frage beherrschen und sich von ihr befreien können um die Zuschauer mit ins Spiel zu nehmen. Jonglieren mit Keulen wird zum Tanz. Wunderbar! Das Trio TR’Espace aus der Schweiz geht in Ihrer Performance „Rencontre D“ neue Wege in der Welt des Diabolo. Live von einem Kontrabass begleitet präsentieren sie ein humorvolles und ästhetisches Spiel über das Mit- und Gegeneinander von Mann und Frau. Tanz und Diabolo gehen eine gleichberechtigte Verbindung ein.
Einzige Vertreterin ihrer Disziplin war die Kunstradfahrerin Jessica Arpin. In „Jessica part en vacances“ spielt sie eine Touristin mit allen Attitüden einer Sightseeingtour und zeigt dabei beiläufig ihr Können. Eine kurze und witzige Nummer, die durch die konsequente Arbeit an der Personnage besticht.
Im Bereich der Luftartistik wurde den Zuschauern ebenfalls eine breite Palette an Umsetzungsmöglichkeiten aufgezeigt. Marta Chavez de Melo & Rosiris Garriddo zeigten in „Ouro“ in einem Duett am Ring die Sympathien und Streitigkeiten einer Frauenfreundschaft. Bella Ruth Salama erzählte nicht nur in Bildern, sondern auch in humorvoller und anrührender Weise mit Sprache in „Elle... Raquel“ die wechselvolle Lebensgeschichte einer Frau von Kindesbeinen bis ins Alter und nutzte dafür ihre drei Disziplinen Seillauf, Flamenco und Tuch. Als Open-Air-Perfomance mit vorangehendem Walk-Act und als etwas kürzere Indoor-Version gab es als einzigen Festivalbeitrag aus Deutschland „upside down red“ von Ellen Urban & Musician. Die Artistin am Tuch wird hier live an der Buk, einer koreanischen Fasstrommel, begleitet. Sowohl dieser Act als auch der der Belgierin Twiggy und des Duos Loli & Cloqui zeichneten sich neben der Luftartistik dadurch aus, dass die Akteure Circus und Theater miteinander verbinden und die Acts durch die ausgeabeiteten Personnagen einen unverkennbaren Charakter bekommen.
Alle Acts des Festivals beschreiben zu wollen würde den Rahmen dieser Rubrik sprengen, deshalb sei die Internetadresse www.catastrophe.be des Espace Catastrophe erwähnt und empfohlen. Hier finden sich Informationen über sämtliche Aktivitäten und Fortbildungsmöglichkeiten.
Bei diesem Stichwort lohnt es sich auch noch an eine Adresse in Deutschland zu erinnern. Das Zirkus- und Artistenzentrum Köln „Zak“ bietet Workshops und Masterclasses auf hohem Niveau und mit namhaften Dozenten an. So waren dieses Jahr z.B. Mike Wright von Circomedia (Luftartistik), Willi Lieferschied von Compagnia Buffo (Clown) und Gandini Juggling (Jonglage) als Dozenten der Masterclasses eingeladen. In 2003 sollen u.a. diese Masterclasses und ein Summercamp für junge Artisten ab 16 Jahren durchgeführt werden. Nähere Infos dazu ebenfalls über Internet unter www.zak-koeln.com.
Redaktion: Philipp Schaefer
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