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  • Szenen Regionen :: Frankreich

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    Hip-Hop ist Kunst, ist Identität, ist chic


    Einzigartig.
    Frankreichs Hip-Hop-Szene dürfte weltweit die reichhaltigste und künstlerisch am weitesten entwickelte sein. Hinter dieser Feststellung steckt kein Pariser Chauvinismus, sondern der schnöde Mammon. Die B-Boys des Landes profitieren einfach davon, dass hier die Institution eine Menge Geld investiert, um erstens dem Land ein kulturelles Aushängeschild zu verschaffen und zweitens die Bewegung mit zeitgenössischem Tanz und sogar der Pariser Oper zu verkuppeln, sodass die Tänzer ihren Blick mehr auf die Fleischtöpfe der choreografischen Zentren richten als auf die sich verschärfende soziale Lage in der banlieue. Das hat immerhin so gut geklappt, dass heute, wie eine Festivalleiterin in der banlieue berichtete, die Zehn- bis Fünfzehnjährigen Hip-Hop schon als bürgerliche Kultur empfinden, und somit als fremd. Der Kartenverkauf ist zusammengebrochen und nun versucht man, Publikum aus Paris heranzukarren. Die betreffende Person wollte denn auch ungenannt bleiben, erhält sie doch einen Großteil ihrer Fördergelder aus sozialen Töpfen und nicht aus der Kulturförderung. Wenn nun der Hip-Hop die Jugend gar nicht mehr erreicht ...

    Der Motor. Das Festival Suresnes Cités Danse ist einer der institutionellen Motoren in der Szene.  Die Geschichte des Festivals wird in dem Buch „Suresnes cites danse, Hip-hop & Cies 1993-2010“ von Isabell Calabre beschrieben. Verlegt wird es vom Theater selbst, welches das Festival jährlich im Januar ausrichtet, dem Théâtre Jean Vilar. Suresnes ist eine gut betuchte Vorstadt, gleich neben einer Pferderennbahn gelegen. Warum wird hier Hip-Hop gefördert? Weil Intendant Olivier Meyer vor fast zwanzig Jahren der Dynamik dieses Stils verfiel. Seitdem hat er viel dazu beigetragen, dass kulturelle Barrieren fielen. Berühmte zeitgenössische Choreografen wie Montalvo/Hervieu, Jean-Claude Gallota, Josette Baïz, Régis Obadia, Laura Scozzi, Karine Saporta und andere, aber auch so ausgeflippte wie Blanca Li, indische wie Rukmini Chatterjee oder afrikanische wie Georges Momboye und das Duo Salia ni Seydou wurden eingeladen, Castings zu veranstalten und sich in das Abenteuer der Begegnung mit dem Tanz der Vorstädte zu stürzen. Sogar aktuelle oder ehemalige Stars der Pariser Oper machten mit, wie die danseuse étoile Marie-Agnès Gillot oder Raphaëlle Delaunay, die eine Zeit lang bei Pina Bausch mit ihren sinnlichen Soli verzauberte.

    Anerkennung. Doch Suresnes Cités Danse ist längst nicht der einzige Thinktank im Hip-Hop. Das Festival hat dazu beigetragen, dass Supertalente wie Mourad Merzouki oder Kader Attou heute zwei bedeutende Institutionen in Frankreichs Tanzlandschaft leiten, Merzouki in Créteil bei Paris und Attou in La Rochelle, wo sie jeweils die Leitung des dortigen Centre chorégraphique national übernahmen. Und auch sonst findet sich niemand mehr, der verächtlich urteilt „aber die machen doch keine Kunst“. Merzoukis Produktionen gehören zu den erfolgreichsten überhaupt im Tanz, sind zum Teil echte Klassiker. Und das ermöglicht wiederum viele Koproduktionen mit Tänzern anderer Kontinente, wie Merzoukis „Agwa“ mit der brasilianischen Kompanie Urbana de Dança, das auch auf Arte ausgestrahlt wurde. Die Choreografen des Hip-Hop hatten lange damit zu kämpfen, dass ihr Bezug zur Kunst sich schneller öffnete als der geistige Horizont ihres Publikums. Doch Jahr für Jahr schmilzt der Unterschied zwischen dem Publikum einer Kompanie wie Black Blanc Beur und dem einer Molière-Aufführung im Théâtre de l’Odéon. Längst ist es chic, zum Hip-Hop zu gehen. Gehört der Stil daher nicht längst zu der so dringend gesuchten identité nationale anstatt zur Identität der banlieue?

    Soli. Was der Hip-Hop heute mit Zirkus, Performance etc. gemeinsam hat, ist, dass immer mehr kleine Produktionen entstehen, also Trios, Duos und Soli. So war auch Storm oft bei Suresnes Cités Danse zu Gast. Ausgerechnet ein Deutscher ist einer der Superhelden der französischen Hip-Hop-Fans. In „Solo for Two“ macht geschickt eingesetzte Videotechnik aus dem Solo tatsächlich einen urbanen Pas de deux zwischen Bild und Bühne, mitten im Rausch der Berliner Metropolis. In einem weiteren Solo, „Virtuelevation“, verfeinert der Künstler seinen mimischen Humor weiter. Da geht es um die kosmischen Irrfahrten eines Pizzaiolo. Neben den tänzerischen Qualitäten offenbaren beide Soli, dass aus dem Tänzer ein entspannter Humorist geworden ist. So sehr, dass sein jüngstes Solo, „Storm ... in klassischem Kontext“ eine Dimension erreicht, die bis dato im Hip-Hop unvorstellbar war – die Selbstironie. Im Watschelgang stelzt der Tänzer auf die Bühne, packt die schwarzen Scheiben aus und legt Gassenhauer der Klassik von Grieg oder Bizet auf den alten Plattenteller. Für Storm war Carmen eine Entdeckung, und genau das Gefühl vermittelt er, wenn er dazu über den Boden wirbelt. Doch dann hält er hechelnd inne! Zum ersten Mal überhaupt outet sich ein Breaker als kurzatmig. Und damit stellt er sich und dem Hip-Hop ein ultimatives Reifezeugnis aus. Anthony Egéa, Chef der Kompanie Rêvolution aus Bordeaux, liefert ein weiteres Beispiel. In „Soli 2“ lässt er die Breakerin Emilie Soudre in Pumps breaken und wie ein Model in aufreizendem Tüll über die Bühne stolzieren. Wenn man weiß, wie schwer sich die Jugendlichen aus der banlieue mit Weiblichkeit und Erotik tun, vermag man zu ermessen, welchen Kampf Soudre mit dem Publikum auszutragen hat. Mit der Energie einer Löwin ringt sie den Widerstand im Saal nieder. Und noch ein Solo beeindruckte bei Suresnes Cités Danse. Brahim Bouchelaghem, ein Ausnahme-Choreograf und -Interpret, projiziert in „What did you say?“ Kalligrafien der renommierten Starchoreografin Carolyn Carlson, die zu seinen Bewunderern zählt. Mehr noch, aus dem Off trägt die Universalkünstlerin selbstgeschriebene Gedichte vor. Und Bouchelaghem wird zur Charakterfigur und zum grafischen Kunstwerk. Ein danseur étoile des Hip-Hop.

    Duos. Eine der Überraschungen in Suresnes waren in diesem Jahr die sehr philosophischen Clownfiguren der Kompanie Si nous sommes. In „Authentique utopie“ spielen Mehdi Ouchaek und Bruce Chiefaire mit der Welt der Kindheit, und das ganz ohne die sonst üblichen Kalauer. Wie in einem Traum von Zirkus und Pierrot tauchen sie in die Suche nach Kontakt und Geborgenheit, in Ängste und ins Unterbewusstsein. Carolyn Carlson sagt: „Ich mache keinen Tanz, sondern visuelle Poesie.“ In „Authentique utopie“ wird das sogar für Breakdance wahr. Der oben bereits erwähnte Anthony Egéa kreierte ebenfalls ein männliches Duo, und zwar auf dem Festival Cadences in Arcachon. „Clash“ ist eine Art Duell, in dem Spannung wie bei Hitchcock entsteht und am Ende sogar Blut fließt. Der zum Teil atemberaubend realistisch vorgetragene Kampf findet symbolisch auf einer schiefen Ebene statt. Wer aber sind die beiden wirklich? Am Ende war alles wohl doch nur Training, Ritual oder Spiel.

    Trios. In der Region um Bordeaux ist Egéas Einfluss auf junge Kompanien offensichtlich. Da wird sehr offen über den Menschen, den Tanz und die Kultur nachgedacht und der Stil ist klar, präzise und enthält philosophische, manchmal gar spirituelle Komponenten. Zum Beispiel H2Nous, die schon mit ihrem ersten Stück „Kojito“ stark beeindruckten. Cogito ergo sum ... Lebendig, dynamisch, reif in der Anlage und mit feinem Humor ausgestattet. Jung sind sie, aber bereits interessante Persönlichkeiten, und das zeigt sich auch auf der Bühne. Und in Suresnes brachte ausgerechnet ein Japaner das Trio des Jahres auf die Bühne. Hiroako Umeda wurde mit seinen futuristischen Soli, zuletzt „Accumulated Layout“, berühmt und tourt auf bedeutenden Festivals. Nun hat Frankreich auch ihn vereinnahmt und ihm eine résidence in der Maison de la musique von Nanterre bei Paris verschafft. Seinen minimalistischen Stil zu synthetisch-industriellen Tonschleifen hält er auch in „2.repulsion“ bei, seiner Kreation für Suresnes 2010. Zu Beginn stehen die drei Tänzer wie angewurzelt, bewegen sich minimal und bilden eine Art Installation. Dann bewegen sie sich aber doch, tauschen die Plätze und entwickeln Persönlichkeit. Den sehr minimalistischen Stil behält Umeda allerdings bei, bis zum Schluss der dreißig Minuten. So konsequent haben die B-Boys selbst das bisher nicht durchgezogen; für eine solch radikale Studie musste erst ein Japaner kommen. Umeda verbindet hier perfekt und auf spannende Weise seine Ursprünge, die ja im Hip-Hop liegen, mit seinem aktuellen Stil. Das Trio findet den menschlichen Kern im maschinenhaften, und das macht „2.repulsion“ so faszinierend, von Anfang bis Ende.

    Redaktion: Thomas Hahn

     


    2010-03-15 | Nr. 66 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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