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    Interessieren Sie sich für Sexualität (oder Fußball)?

    Dichter und Satiriker von Rang sind in Deutschland nicht gerade dicht gesät und so freut man sich, wenn man solch seltener Spezies gewahr wird. Konkret ist hier vom Schauspieler, Fußballer, Radfahrer und Satiredichter Horst Thomayer die Rede, dessen formvollendet verschrobene Briefwechsel mit Behörden, Institutionen, Firmen und Personen entlarvend komisch sind. Eine scharfe Beobachtungsgabe, beißender Spott, hinterlistige Nachfragerei und gespielte Unschuld sind seine Mittel. Dazu gibt’s brachiale, fiese Alltagslyrik, die treffsicherer und trefflicher kaum sein könnte. Also, Interessieren Sie sich für Sexualität (Edition Tiamat / ISBN 3-89320-092-4; live, 21 Tracks, 74:41 Min.), Treppenlifte, Herrn Brandts selige Witwe, Gedichte in Slowenisch oder für Pornofilmregisseure? – dann sollten Sie hier nicht zögern, zuzugreifen und zuzuhören.

    Thomas Ebermann und Rainer Trampert sind Zu Gast bei Freunden (Konkret Literatur Verlag / ISBN 3-89458-247-2; 2 CDs, live, 7 Tracks, 67:23 Min. + 7 Tracks, 69:05 Min.), wo sie kräftig vom Leder ziehen. Die Spezialität der beiden ehedem grünen Jungs ist das Zerpflücken von Texten. Sie tragen vor, sie lesen vor und nehmen dabei das Vorgetragene gründlich und genüsslich auseinander. Sei es das reaktionäre Geraune von Udo, dem Verfassungsrichter, das dumme Geschwafel von Ratgeber- und Esoterikliteratur oder die Inthronisierung des neuen Medienstars Paul Nolte – aus dem Lachen über das Gehörte entsteht kritische Distanz, erwächst Erkenntnis. Natürlich nehmen sie auch die einschlägigen Vorbereitungen der Fußball-WM auf ihre satirische Schippe.

    Des Themas Fußball nehmen sich intensiv auch die drei Herren des (Fußball-) Magazins 11 Freunde auf ihrer Lesereise (WortArt 4170 / ISBN 3-86604-170-5; live, 11 Tracks, 66:16 Min., Infos) an. Jenseits von Bild und Kicker berichtet hier ein Heft für Fans mit Köpfchen über Fußball, in dem auch Satire ihren Platz hat. Hier erfährt der staunende Hörer Neues über die Wunder-WM 1954 aus Fritze Walters geheimen Tagebüchern, die Abenteuer des Günther Hetzer und seiner (Sauf-)Kumpane werden erzählt, die strapaziösen Reisen von Fans beim Auswahlspiel gewürdigt und die Dauergewinnspiele beim DSF vorgestellt. Mit Philip Köster, Jens Kirschneck und Arnd Zeigler macht selbst Fußball wieder Spaß.

    Was soll man schreiben? Pathos wäre ihm zuwider gewesen, und doch möchte man in Superlative verfallen, wenn man von dem 2002 Verblichenen redet. Von wem die Rede ist? Von Mathias Beltz, dem Frankfurter Chaoten, dem Opelarbeiter und scharfsinnigen und scharfzüngigen Gedankenentwickler und -verplauderer auf der Kabarettbühne wird hier gesprochen. Doch besser ist’s, er kommt selbst zu Wort. So haben es auch Alexia Agathos und Beltz’ Witwe Christiane Meyer-Thoss bei ihrer Dokumentation über den Künstler gehalten: Matthias Beltz – Freund/Feind – Ein Portrait (WortArt 4120 / ISBN 3-86604-120-2; 2 CDs, 11 Tracks, 50:35 Min. + 16 Tracks 74:23 Min., Infos). In den Interviews und den Ausschnitten aus seinen Programmen erfährt man nicht nur etwas über seinen Werdegang, man kann auch noch einmal mit Vergnügen seinen sprunghaften Gedanken- und Wortkaskaden folgen. Das Portrait verdeutlicht erneut die große Lücke, die sein früher Tod in die Kabarettlandschaft gerissen hat.

    Da der Kabarettist Dietrich Kittner vom Fernsehen boykottiert wird, hat er jetzt angefangen, DVDs zu produzieren, um auf den Bildschirmen präsent zu sein. Seit weit über vierzig Jahren macht er Kabarett und mischt sich mit politischen Aktionen ins Geschehen ein. Angefangen hat er in Göttingen mit einem Studentenkabarett, doch schon früh stand er allein auf der Bühne, nur begleitet von seiner Frau Christel an der Technik. Im Gespräch mit Susi Duhme erzählt er von den Anfängen, seinen eigenen Spielstätten in Hannover, der Familie, seinem Arbeitsstil und wie es dazu kam, dass die Senderbosse ihn meiden. Die Wut hält jung (edition logischer Garten / ISBN 3-924526-20-6; 63 Min.) lautet sein Motto, und Anlässe für diese Wut gibt es im Lande zuhauf.

    Wenn ein kleiner Mann behauptet: Nur die Größe zählt (WortArt 4169 / ISBN 3-86604-169-1; 27 Tracks, 76:25 Min.), meint er natürlich die innere. Und auf die bildet sich Horst Schroth alias Nikolaus Niehoff einiges ein, wenn er wie ein Kiesel in der Brandung des Lebens steht, in der seine Familie fast untergeht. Dabei hat er als Chef einer kleinen Immobilienfirma, der gerade ein Riesengeschäft zu platzen droht, wahrlich selbst genug um die Ohren. Und nun will auch noch sein einziger Neffe Jonas, ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, Moslem werden, wegen einer Frau, die er in Kabul kennen gelernt hat. Von den unsinnigen Heiratsplänen seines Freundes Freddy gar nicht erst zu reden, es herrscht also ein einziges Durcheinander. Mit Tempo und gewohnter Souveränität löst Schroth das Kuddelmuddel auf, lässt sich nebenbei über die wilden Siebziger aus, hadert mit Lehrern und Beamten und verkörpert trefflich den Wandel vom einstigen Radikalinski zum Mittelstandsmacho von heute.

    „Physik ist sexy“, behauptet Vince Ebert und präsentiert uns seine Urknaller (Susanne Herbert, Tel. 069-95 50 74 40; live, 15 Tracks, 75:55 Min., Infos). Wer hätte gedacht, dass Physiker auch witzig sein können oder dass man gar mit physikalischen Themen ein Kabarettprogramm gestalten kann. Lernen und Spaß, Spaß beim Lernen, Lernen durch Spaß – ja, das geht. Wellenlängen, chaotische Systeme, Relativitätstheorie, Entropie, klingt doch komisch, oder? Ja, hier ist für Jeden etwas dabei, denn was Ebert daraus macht, wie er mit den Begriffen umgeht, sie erklärt, sie einbindet in seinen Gedankenfluss, das ist schon recht gelungen. Wollen wir hoffen, dass ihm der theoretische Stoff noch lange nicht ausgeht, die Physik ist ja bekanntlich ein weites Feld. Leider baut er in sein Programm auch die obligatorischen Männlein–Weiblein-Witze ein. Wäre eigentlich nicht nötig gewesen.

    Seinen weiten Weg aus der kanadischen Zwergschule in Toronto zur Springmaus in Düsseldorf und zur Lindenstraße schildert Bill Mockridge in seinem sehr persönlichen Programm: Zwei Bier, please (WortArt 4171 / ISBN 3-86604-171-3; live, 24 Tracks, 77: 55 Min., Infos). Es ist bewegend, ja geradezu rührend, wenn er von seiner Lehrerin erzählt: wie er wegen Pinocchio auf die Bühne wollte, wie er nach Deutschland kam. Und wenn er von seiner Familie spricht. Dies ist kein Kabarettprogramm im üblichen Sinn. Er erzählt aus seinem Leben, es ist spannend, es ist witzig, es ist unterhaltsam und auch lehrreich.

    Einen ganz so weiten Weg auf die hiesigen Bühnen hatte Roberto Capitoni nicht zurückzulegen. Ein kleiner Italiener (Michael Zeiss, Tel. 02 21-3 55 17 50; live, 31 Tracks, 70:10 Min.) aus dem schwäbischen Allgäu, der uns auf eine Reise nach „Bella“ Italien einlädt. Von der Pizzeria an der Ecke über (Frauen-)Kinofilme und vollgemachte Kinderwindeln geht die aufgeregte Fahrt, wobei unser Reiseleiter auch vor Deftigkeiten nicht Halt macht. Ein kleiner Macho, der mit Urteilen und Vorurteilen spielt und sein Publikum juchzen lässt.

    Uns bindet die Liebe, uns bindet die Not (M. Pohlmann, Tel. 0 26 22-8 20 15; 16 Tracks, 48:39 Min., Texte) lautet das Motto, das Manfred Pohlmann einem dänischen Arbeiterlied entnommen hat. Er möchte Lieder der Freiheit, Lieder der Arbeit wieder einem größeren Publikum näher bringen. Zusammen mit seiner Gruppe Mannijo, sowie den Sängerkollegen Roger Siffer, Günter Gall und Jo Nousse trägt er eine sehr persönliche Auswahl politischer Lieder vor. Sie singen vom einzelnen und freien Leben zur Sonne und Freiheit und den freien Gedanken, vom kleinen Trompeter zu den Leinewebern und vom Deserteur zur Moerbrigade. Indes erreichen sie weder die kämpferische und präzise Diktion eines Ernst Busch, noch die harmonieweichen Mitsingfassungen von Hannes Wader. Ihre Versionen sind schlichter, eher für den Hausgebrauch gemacht.

    Ein ähnlich ungewöhnliches und gewagtes Projekt haben sich Frank Baier und Die Grenzgänger mit Michael Zachcial vorgenommen: Sie wollen die Zuhörer mit dem Kapp-Putsch und dem folgenden Ruhrkampf 1920 (Müller-Lüdenscheidt Verlag / Indigo; 21 Tracks, 75:05 Min., ausführliche Infos) bekannt machen und singen die Lieder der Märzrevolution. Ein Putsch rechter Freikorps und Reichswehrangehöriger wurde durch einen Generalstreik niedergerungen. In der Folge kommt es in Sachsen und Thüringen und vor allem im Ruhrgebiet zu Arbeiteraufständen, die von der Reichswehr (und Teilen der Putschisten) blutig niedergeschlagen wurden. Heute ist dieser Teil deutscher Geschichte kaum noch geläufig, Baier und Zachcial wollen dies ändern. Mit Rap-Songs und Arbeiterliedern bringen sie das damalige Geschehen auf die Bühne. Ein ausführliches Booklet gibt die Texte wieder, ergänzt durch ausführliche Informationen zum Geschehen.

    Im März 1920 war Karoline Blamauer noch als Tänzerin am Schauspielhaus Zürich beschäftigt. Karoline Blamauer? Sagt Ihnen nichts? Bekannt und weltberühmt geworden ist die Dame später unter dem Namen Lotte Lenya (Bear Family BCD 16019 KL / ISBN 3-924787-14-X; 11 CDs, 1 LP, Beibuch 252 S.). Sie war die große Liebe und Muse Kurt Weills, mit dessen Liedern sie ihren einzigartigen Ruhm begründete. Die reichhaltig ausgestattete CD-Box, anlässlich ihres 100sten Geburtstages erschienen, dokumentiert Aufnahmen von 1929 bis 1998. Es sind natürlich immer wieder die berühmten Songs aus der Dreigroschenoper, Happy End, Mahagonny und der sieben Todsünden in verschiedenen Versionen zu hören, aber auch Lieder aus dem Cabaret und deutsche Gedichte. Die Reproduktion einer Schallplatte aus dem Jahre 1931 und ein ausführliches Buch ergänzen diese einmalige Sammlung.

    Als Künstlerin ein Kind berühmter Eltern zu sein, ist nicht immer nur von Vorteil, zumal dann, wenn man im gleichen Metier arbeitet und die Familienverhältnisse eher gespannt sind. Sandra Kreisler ist solch ein Fall und sie hat sich der hervorragenden Lieder eines großen Künstlers angenommen: Kreisler singt Kreisler (www.sandrakreisler.de; 20 Tracks, 66:58 Min.). Da werden keine Tauben vergiftet, es sind eher die unbekannten und bislang unveröffentlichten Lieder, die sie mit Jochem Hochstenbach am Klavier vorträgt. Sie findet ihre ganz eigene Interpretation, frisch und schwungvoll, aber auch subtil und hintergründig, mit einer kraftvollen und ausdrucksstarken Stimme. Selten hört man Kreisler besser als von Kreisler, sei es Georg oder Sandra.

    Inzwischen hat sich Sandra Kreisler wieder neuen, eigenen Projekten zugewandt. Sie singt jetzt zusammen mit Roger Stein die Lieder eines Postmodernen Arschlochs (www.sandrakreisler.de; 3 Tracks, 10:59 Min.). Eine Auskopplung belegt sowohl ihren zeitkritischen Geist als auch ihre Wandlungsfähigkeit: Chansons und Hip-Hop auf textlich und musikalisch hohem Niveau. Auf das gesamte Programm darf man gespannt sein.

    Ein interessantes und anregendes Rauschen (Virgin/EMI 3344610; 12 Tracks, 47:28 Min., Texte) vernimmt man von Kitty Hoff und Forêt-Noire. Eigene Texte, lyrisch anspruchsvoll, humorvoll und lebensnah, haucht sie einem zu jazzigen Tönen ins Ohr. Melancholisch swingen ihre Verse dahin, sie agiert souverän und überrascht mit klugen Texten und Zwischentönen. Es ist ein eigener, ein neuer Ton, den sie anschlägt, der neugierig macht und erfreut.

    Ein Billiges Vergnügen (Rum Records / Buschfunk; 9 Tracks, 73:37 Min., Infos) bescheren uns die Herren Dieter Beckert und Jürgen B. Wolff vom legendären Duo Sonnenschirm aus Leipzig natürlich nicht. Sie machen ein musikalisches Kabarett der besonderen Art. Mit derben Songs voller Absurditäten betreiben sie ihre Gesellschaftskritik. Sie persiflieren die Castortransporte ebenso wie den Irakkrieg, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und das spießbürgerliche Gehabe. Brachialromantik nennen sie ihre durchgedrehte Schau. Sie steckt voller Bezüge, Andeutungen und Witz. Zwei herrlich Verrückte, die mit einem minimalistischen, aber raffinierten Programm überzeugen.

    Von Leipzig nach Chemnitz: Von hier stammen Sabine Kühnrich, Wolfram Henning und Ludwig Stern. Diese Abkömmlinge der DDR-Singebewegung treten heute als Quijote auf. Auf ihrer CD Fluss unterm Eis (Sabine Kühnrich, Tel. 03 71-31 17 71; 15 Tracks, 69:41 Min., Texte) haben sie Texte des Dichters Henry-Martin Klemt kongenial interpretiert. Nachdenkliche, poetische, ja philosophische Lieder, die die Grundfragen menschlichen Lebens berühren: Wer bin ich, was bin ich, wohin will und kann ich? Wer sich derart mit der Zeit und der Welt auseinander setzt, der darf nicht auf allzu viel Aufmerksamkeit hoffen. Wer einen Sinn für leisere Töne hat, sollte sich Quijote anhören.

    Auf ihrer zweiten CD hat sich Quijote der Lieder Mikis Theodorakis angenommen: Nur diese eine Schwalbe (Sabine Kühnrich, Tel. 03 71-31 17 71; 20 Tracks, 73:31 Min., Texte und Infos). Zwar ist Theodorakis in Deutschland bekannt, aber Übertragungen sind dennoch rar. Hier wurde von Quijote Pionierarbeit geleistet. Den deutschen Texten liegen Nachdichtungen verschiedener Künstler zugrunde, wie Wenzel, Steineckert und Klemt. Der eindringliche Gesang, vor allem von Sabine Kühnrich, und die gelungene Instrumentierung machen die Lieder zu einem Genuss für Geist und Ohr.

    Zum guten Schluss noch etwas vom Fest auf den Wiesen: Konrad Beikircher singt Celentano – una festo sui prati (Roof Music RD 2533250 / Indigo 55592 / Eichborn ISBN 3-936186-77-4; 21 Tracks, 66:28 Min., Texte in Deutsch und Italienisch). Da hat sich einer einen alten Jugendwunsch erfüllt: die Lieder seines Idols zu schmettern, mal nah am Vorbild, mal eigenständig interpretiert. Auf CD lässt sich ja Herr Celentano auch im Original hören, doch die Versionen des Herrn Beikircher sind auf jeden Fall ebenfalls hörenswert.

     

    2006-06-15 | Nr. 51 |





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