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  • Szenen Regionen :: Frankreich

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    Jenseits aller Disziplin...en!

    Es tut sich viel zwischen Tanz, Mime und Theater. Die Grenzen fallen, die Genres sind oft vermischt oder völlig undefinierbar. Und alle Künstler auf dem Grat der Disziplinen, die schon in Frankreich und Deutschland auftraten, berichten davon, wie sie sich in Deutschland wesentlich besser angenommen fühlen. Die französische Szene denkt vornehmlich in Schubladen und theoretischen Definitionen. Dass nun ausgerechnet hier so viel transdisziplinär gearbeitet wird, liegt zum einen natürlich daran, dass Künstler eben weiter denken, fühlen und handeln als Funktionäre, aber auch an der großen Dichte des kulturellen Schaffens und der starken Präsenz internationaler Künstler.

    Zum Beispiel die argentinische Regisseurin Paula Giusti, die mit Schauspielern, Mimen und Tänzern ihrer Heimat die Person Fernando Pessoas analysiert, zerlegt und in Schwingungen versetzt. Sie sprechen spanisch, aber ihre Körpersprache ist so eindringlich, dass der immer vermutete Gegensatz zwischen Texttheater und Körpertheater sich hier auflöst als hätte er nie existiert. Die Darsteller der Heteronyme scheinen Köper aus Gummi zu haben. Ein Darsteller spielt Pessoa, eine Mimin ist seine Angebetete Ophelia, die anderen drei verkörpern seine Heteronyme Caeiro, de Campos und Reis. Pessoa liegt im Krankenbett und bewegt sich, als hinge er an unsichtbaren Fäden. Es herrscht etwas von der Strenge des neunzehnten Jahrhunderts. Alle Obsessionen, Komplexe und Traumata Pessoas werden hier lebendig. Die Analyse ist so fein wie ihre Umsetzung. Die Inszenierung veranschaulicht, wie Pessoa seine Existenz, seine Person, seine Psyche inszenierte. Aber nicht nur Pessoa-Fans finden hier Genuss und Schlüssel zur Literatur des portugiesischen Büroangestellten, der eine ganze Generation von Dichtern sein wollte. Lob für die Produktion der Kompanie Toda Via Teatro gab es von höchster Stelle, nämlich von Ariane Mnouchkine, in deren Théâtre du Soleil Giustis Produktion zu sehen war. Im Oktober werden sie in Madrid auf dem Festival de Otono, dem größten Kulturfestival Spaniens, auftreten.

    Noch mehr Latino-Körpertheater in Frankreich: Die Brasilianerinnen Fabrica Teatro spielen mit „Fabrica No 7“ ein poetisches Duo zweier Arbeiterinnen in einer Bohnenmanufaktur, zwischen Industrialisierung, kindlich naivem Spieltrieb, Dialogen, Gesang, Kampfgeist und Verzweiflung. Da entsteht viel Poesie, die einen ganz neuen Blick auf die Bohne als solche eröffnet (www.fabricateatro.com).

    Eine der erfolgreichsten deutschen Künstlerinnen in Frankreich ist Ilka Schönbein. Ganz langsam erst beginnt man sie in Deutschland zu entdecken. Dabei ist in Frankreich das Märchen vom Froschkönig kaum bekannt, wird das aber zunehmend, denn Ilka ist ein Publikumsmagnet, bekannt durch jahrelange Präsenz mit ihrem Renner „Metamorphosen“. Mit einer Mischung aus Puppenspiel, Mime, Theater und Tanz schafft Schönbein auch bezaubernde Bilder von Frosch, König, Wald, Hexen, Brunnen usw., die wie immer allein aus ihrem Körper und Kostüm entstehen. Da fehlt es nicht an Überraschungen. Und Ilka wird jetzt auch zur Regisseurin für andere Darsteller, in einer Version von „Der Wolf und die sieben Geißlein“, die gleich viel Spaß für Groß und Klein bietet.

    Eine der inzwischen bemerkenswertesten kleinen Tanzkompanien aus Japan ist in Paris zu Gast. 86B210 heißt das Duo aus Tokio. Die Choreografin und Interpretin Fumie Suzuki und ihre Partnerin Keiko Iguchi sind fast jedes Jahr in Frankreich und haben heute eine faszinierende Körpersprache entwickelt, deren Intensität aus zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten entspringt. In „Piece of Sky“ ließen sie sich von dem Mord eines Schülers an einem Klassenkameraden inspirieren, der vor einigen Jahren die japanische Öffentlichkeit erschütterte. Das Ergebnis ist eine Autopsie innerer Schockzustände wo jede Geste, so unvorstellbar sie auch erscheinen mag, einen Schauder verursacht, der von Anfang bis Ende anhält. Da lässt sich nicht mehr bestimmen, ob es sich um Butoh, zeitgenössischen Tanz oder Tanztheater handelt. Bestimmend ist allein die Gestik von Suzuki und Iguchi, die sich zu einem echten Markenzeichen entwickelt hat (www.geocities.jp/dance86b210).

    Die Kompanie Le Sixième Etage ist so unbekannt wie bemerkenswert. Doch Jean-François Bizieau ist Interpret (wer mag sagen, ob Mime, Tänzer oder Schauspieler ...?) der ganz und gar nicht unbekannten Kompanie Castafiore. Sein Partner Pascal Renault trat sowohl im Theater als auch im Kino in Erscheinung, unter anderem als Partner von Catherine Deneuve. Ihr neues Stück heißt „Passablement sceptique“. Im Grunde handelt es sich um visuelle Kunst, mit lebenden Körpern. Von denen einer, so männlich wie der andere, eine fabelhaft geschmeidige Interpretation von Weiblichkeit liefert. Da sind manche Szenen so grotesk erotisch wie bei Copi, andere rein poetisch oder surrealistisch. Halb hetero-, halb homosexuell entsteht hier eine Sittenkomödie der neuen Art zwischen Sexualität, Politik und Alltag. Ein absurdes Puzzlespiel, das sich zu einem Gesamtkunstwerk zusammenfügt. Man rätselt und lacht, zittert und liebt. Das Paar bewegt sich meist maschinenhaft, doch niemals verlieren sie über die stilisierte Gestik ihre Menschlichkeit. Letztendlich geht es in diesem Körpertheater darum, welche Freiräume möglich sind. Nicht umsonst handelt es sich um eine „Tragikomödie für zwei Interpreten und drei mechanische Hunde“. Wie kalt sind wir, gegen unseren Willen, wenn wir eine warme Geste versuchen? Die sechste Etage fasziniert, weil die Hoffnung auf den siebten Himmel nicht gänzlich erloschen ist.

    Aus Kamerun stammt Merlin Nyakam, ist aber bekannt als Tänzer in der Kompanie von José Montalvo, einem der populärsten, da humorvollsten Choreografen Frankreichs. Nun sucht er seinen eigenen Weg zwischen Tradition und Moderne. Den Spaßfaktor hat er von Montalvo mitgebracht, dazu die Ironie und das hohe Tempo. Sie tanzen nicht nur, sondern spielen Slapstick und Dialoge, die losfeuern wie Maschinenpistolen. So kraftvoll und präzise sie tanzen, so mitreißend sind sie als Clowns und Akrobaten. La Calebasse de Merlin Nyakam heißt die junge Kompanie, von der man nur hoffen kann, dass sie weiter zusammenarbeiten wird. „Liberté d’expression“ ist der Titel ihrer aktuellen Tanzbombe.

    Immer wieder originelle Körperarbeit bietet Retouramont, offiziell eine Tanzkompanie. Doch der Begriff ist dehnbar, genau wie die Körper und Bewegungen bei Retouramont. „Juste sous mes pieds“ (Direkt unter meinen Füßen) ist eine Art Kräftemessen mit einem immens schweren Tanzboden, den sie aufrollen, stemmen, falten. Er wird Gebirge, Gewand, Sinnbild der Existenz des Tänzers und des Menschen überhaupt. Wie gerne würden wir unserer Natur entschweben, wie viel Kraft müssen wir immer wieder aufwenden, um keinen Deut weiterzukommen. Sie drücken, reiben, ziehen, stemmen, kneten den Zentner-schweren Boden. Jedes Mal untersuchen die Choreografen Geneviève Mazin und Fabrice Guillot in ihren Stücken elementare Eigenschaften, Begriffe, Grundstoffe und Gefühle. Dabei dringen sie so tief in die jeweilige Materie, dass sie wirklich Grundlegendes zu Tage fördern (www.retouramont.com).

    Redaktion: Thomas Hahn

    AdNr:1085 

    2006-06-15 | Nr. 51 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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