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    Kritik: Bitte nicht Mitte!


    Die „Brauseboys“ in den Osramhöfen

    Julian ist ein junger Mann mit einem ernsten Problem: Er kommt aus Ostwestfalen und will „was mit Medien oder Kunst oder so Sachen“ machen. Gibt es einen besseren Platz dafür als das hippe, weltbekannte Berlin-Mitte? Seit der letzten Bezirkszusammenlegung vor einigen Jahren gehört allerdings auch der markige Arbeiter- und Arbeitslosenbezirk Wedding verwaltungstechnisch zu Berlin-Mitte. Und so zieht Julian nicht an den Potsdamer, sondern an den Leopoldplatz, wo selbstverständlich weiterhin Döner statt Sushi gegessen wird.

    Die „Brauseboys“, eines der zahlreichen Berliner Wortvarietés, haben aus diesem Missverständnis ihr Readical „Leopoldplatz“ gemacht, das sie mitten im Wedding, in dem ehemaligen Fabrikgelände Osramhöfe, aufführen. „Ein Readical ist so was wie ein Musical, aber ohne das ganze Rumgehopse“, erklärt einer der sechs Boys. „Aber gesungen wird auch mal.“ Also wird nicht nur an den Bühnenrand gegangen und gelesen – hier steht ein Piano auf der Bühne, und im Hintergrund projiziert ein Laptop Digitalfotos aus dem Wedding an die Wand.

    Julian strauchelt durch seine neue Nachbarschaft. Hält die Eckkneipe „Zum Süffel“ für einen trendigen Retro-Venue, steht vor dem berühmten Weddinger Maden-Automaten – aus dem Angler sich Köder ziehen können – wie vor einer Kunstinstallation.

    Das erstaunlich unstudentische Publikum lacht sich schadenfroh scheckig. Doch je länger das Readical dauert, desto mehr kippt die Stimmung. Genau wie Julian verfällt auch der Zuschauer dem ruppigen, ehrlichen Charme des Bezirks.

    Zum Schluss entdeckt Julian seinen Fehler. Doch da ist er längst verloren für die Latte-Macchiato-Trinker rund um den Potsdamer Platz. „Warum tragen die alle so große Sonnenbrillen? Ist die Sonne größer geworden?“ fragt er sich. Als die Brauseboys ganz zum Schluss ihre Hymne „Für immer Wedding!“ intonieren, wird sogar das eine oder andere Feuerzeug geschwenkt.

    Wirklich ein schöner Abend.

    Redaktion: Susann Sitzler

    2008-06-15 | Nr. 59 | Weitere Artikel von: Susann Sitzler





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