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    Manege frei in Wiesbaden

    Unablässig alle zwei Jahre zieht es Wiesbadens Bürger auf das Dernsche Gelände in den roten Kuppelbau – in den Circus. Dann nämlich, wenn es heißt: Manege frei für die jungen Artisten Europas. In jedem geraden Jahr wird das große Chapiteau inmitten der Drei-Lilien-Stadt für das renommierte Festival aufgeschlagen, den European Youth Circus.

    Kontor für Kunst und KulturSchon Monate zuvor herrscht in dem Gebäude gegenüber emsiges Getriebe. Die Telefone und E-Mail-Server laufen heiß von Anfragen um die Bewerbungsbestimmungen und -unterlagen. Das Team von Jörg-Uwe Funk hat alle Hände voll zu tun, um die Artisten aus ganz Europa in die Regeln einzuweisen, die eine strenge Auswahl anhand eingeschickter Videos vorsehen. Im frühen Sommer dann werden diese gesichtet. Das bedeutet ein volles Wochenendprogramm für Frank Zammert und Frank Petereit sowie eine für diesen Job jeweils neu zusammengestellte Auswahlkommission aus Fachleuten der Varieté- und Circusbranche. In diesem Jahr hatten Peter Kremer, Jocelyne Gasser und Zoltan Zoboky sowie Frank Zammert und Arlette Hanson die Qual der Wahl, aus den 130 Einsendern 25 auszuwählen, die im Chapiteau in den artistischen Wettstreit treten würden.

    Wenig Zeit, bevor die Artisten anreisten, die bald die Menge verzaubern sollten. Nun hieß es, die Hotelzimmer zu buchen, die Verpflegung zu ordern und den Massageplan festzulegen. Denn die Fürsorge für die europäischen Nachwuchsartisten kennt bei den wahren Aficionados im Kulturamt keine Grenzen. Auch seit Jürgen Dusch, dessen Herzensangelegenheit das Festival immer war, das Ruder aus der Hand gab, hat sich daran nichts geändert.

    Selbst in der Interimszeit erlosch das Circusfieber in Wiesbaden nicht, gab es doch für die Fachwelt genügend Diskussionsstoff. Denn in der Zwischenzeit trafen sich bisher die Circusdirektoren beim europäischen Colloquium zur Circuskultur. Und wo konnte dies sinnreicher angesiedelt sein als im Rathaus?

    Auch in diesem Jahr wurde im Plenarsaal der Stadtverordneten wieder heftig über die theoretischen Aspekte unter der Circuskuppel diskutiert. Allerdings nur einen Tag lang im Schatten des Festivals – und nicht mehr als gesonderte Veranstaltung. Lag bei den letzten Colloquien das Augenmerk auf den rechtlichen Möglichkeiten der Artisten, ihr Werk vor Diebstahl zu schützen, und bei der „Faszination Clown“, befasste sich das Gremium in diesem Jahr mit den „Trends und Entwicklungen in der Artistik“. Zusammenfassend lässt sich darüber sagen, dass die Grenzen im Manegenrund gesprengt werden. Dabei wird die Circuskunst immer mehr mit anderen Kunstformen – vorwiegend den darstellenden Künsten, aber auch den bildenden – verquickt. „Fresh Circus“ heißt das Zauberwort.

    Einen faszinierenden Einblick in die Welt des Circus konnten die Zuschauer nun erlangen. Vier Tage voller Spannung und Wettstreit zwischen den jungen Artisten Europas. Vier Tage voller ergreifender Momente. „Keine Leistungsschau, sondern beste Unterhaltung“, wie Johnny Klinke, der Direktor des Tigerpalasts, der beim European Youth Circus als Jurysprecher fungiert, es ausdrückte.

    Vorneweg der junge Brite, Arron Sparks (22 Jahre), der mit seinen Jo-Jos der Fliehkraft neuen Ausdruck verleiht und temporeiche Bilder in die vom angehaltenen Atem der 1.400 Zuschauer vibrierende Luft zeichnet. Gleichfalls atemberaubend: die zwölfjährige Alina Ruppel, die mit ihrer Kontorsion eine wundervolle Darstellung „der“ Schlange bietet. Als sei sie selbst einer Walt-Disney-Animation entsprungen, versetzt sie das Publikum in die Welt der Illusion. Nichts Abstoßendes oder auch Laszives, das so oft den Kontorsionen anhaftet, stört die Gemüter. So kann sie den Festivalpreis in Bronze mit nach Hause nehmen.

    Doppelgesichtig und rasant wirbelt dagegen Richard Kahlig die Bälle durch die Luft. Aus Kärnten kommend, studierte der 25-Jährige an der Zirkusschule „Die Etage“ in Berlin. Mit seiner Jonglage als Janus gewinnt er nun den mit 400 Euro dotierten Preis der „Gesellschaft der Circusfreunde“.

    „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde“, sagt ein Sprichwort. Allerdings nur, wenn er nicht Igor heißt und kein Equlibrist ist. Denn Igor Gavva, der ukrainische Körperkünstler, lässt sich in besonderer Art mit der Zeit ein und scheint dabei Glück zu empfinden. Zumindest ist der Absolvent der staatlichen Zirkus- und Varietéschule in Kiew und Künstler des Traumtheaters Salomé beim European Youth Circus mit seinem Programm „Time is ...“ der glückliche Gewinner des Preises der Wiesbadener Kirchen.

    Doppelt glücklich – oder genauer gesagt, vierfach – können sich die Zwillinge Ele und Julia Janke schätzen. Mit ihren fantastischen Luftspielen be- und verzaubern sie die Herzen aller Zuschauer und erringen dabei ein Engagement im Frankfurter Varietétheater Tigerpalast und den goldenen Festivalpreis der über 17-Jährigen. Bei ihren Eskapaden in luftiger Höhe am Trapez hat alles Hand und Fuß. Poetisch und doch auch rasant geht bei Duo Elja alles Hand in Hand. Die beiden im Gleichklang Schwingenden, die ihr Handwerk an der staatlichen Schule für Artistik in Berlin erlernten, bei Viktor Famine in Montreal verfeinerten und die schon beim SOLyCIRCO-Festival den Publikumspreis einheimsten, können ihre Kunst darüber hinaus beim internationalen Circusfestival in Latina unter Beweis stellen. Denn diesen Preis stecken Ele und Julia auch beim European Youth Festival ein.

    Voller Dynamik und Brillanz stecken auch die Rolling Wheels aus Ungarn. Mit ihrer Rhönrad-Darbietung überzeugen Renata Toth, Zsofia Németh und Ferenc Nagy das Publikum und die European Circus Association, deren Preis die Absolventen der Imre Baross Circus High School ihr Eigen nennen können. Die reibungslose Luftakrobatik mit Sternenstaub und Magie von Polinde, einer französisch-holländischen „Co-Produktion“, wird versilbert, während sich Maria Sarach anmutig entpuppt und mit ihrer sinnlichen Darbietung Ehrfurchtsschauer über den Rücken der Zuschauer treibt. Für ihre Darstellung der „Evolution“ erhält die 18-Jährige den bronzenen Festivalpreis. Mit Silber bedacht werden die schwedischen Trapezkünstlerinnen Mira & Esmeralda von Cirkör.

    Goldig im wahrsten Sinne des Wortes sind die Dolls. Aus der Ukraine stammen die vier Zwölf- bis 18-Jährigen. Und mit ihrer ausgefeilten Akrobatik verzückten sie bereits die Juroren beim internationalen Zirkusfestival in Moskau und der „Première Rampe“ in Monte Carlo. Quirlig, findig und voll der das Festival bestimmenden Frauenpower überzeugen sie die European Youth Circus-Jury, der, neben Klinke, Cecilia Hedlund, Masha Dimitri und Frank Keller sowie Carol Gandey, Alexander Grimailo und Antonio Giarola angehören, ihnen den Ersten Preis zu verleihen. Dass das Diabolische durchaus Witz haben kann, zeigen Jonas & Konrad, die beiden schweizerischen Artisten, die aus Hut und Koffer Spielfreude – und mittels dieser komischen Eierbecher, die sie teuflisch in der Gegend umherwirbeln, – ein Schmunzeln und ein Staunen auf jedes Gesicht zaubern. Last but not least feiert Wiesbaden mit der Französin Jeanne Durand-Raucher noch ein besonderes Fest. Mit vor Selbstironie sprühender Akrobatik zelebriert die 25-Jährige ihren Geburtstag und kassiert damit den Preis der „Circus-, Varieté- und Artistenfreunde Schweiz“. So ganz nebenher verspeist sie dabei sehr zum Vergnügen aller Anwesenden ihre Torte, im aufs Äußerste ausgewogenen Handstand, gleich selbst.

    Redaktion: Andy Springer

    Bernd Lafrenz
    AdNr:1012 AdNr:1047h 

    2008-12-15 | Nr. 61 | Weitere Artikel von: Andy Springer





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