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    Neuerdings in Berlin: paradiesische Zustände

    Im schnatternden Pulk vor der Tür steht Sarah Schmidt von der Reformbühne Heim & Welt und ruft mit tiefgerauchter Stimme nach dem Kollegen Bjerg, der auf dem Gehsteig vorbeihastet „Ja, Bov, tu nur so, als hättest du uns nicht gesehen...“. Bjerg nähert sich erstaunt schwäbelnd: „Was macht Ihr denn hier?“ Dann gesellt er sich zum lokalen Comic- und Comedian-Held Fil um wichtige Dinge zu besprechen. An der Tür reißt derweil Chanteuse Tanja Ries mit brutalsmöglichem Dekolletée die Eintritskarten der einströmenden Besucher, während Tim Fischer an der Bar bei Svenja Shihora ein Weinchen ordert, bevor er sich zum Plaudern neben Tetta Müller von Malediva an den Tresen stellt. Corinne Douarre hat sich`s mit ihrem Bier lieber auf einem Stuhl gemütlich gemacht.

    Klingt wie der Traum vom Paradies für Berliner Kleinkunstliebhaber? Ist aber nichts als die Wahrheit. Zur Premiere von „Sonntagsbrandl“, dem neuen Termin von Deutschlands dominantester Chanteuse Martina Brandl kamen einfach alle in den neueröffneten Comedy-Club „Kookaburra“, betrieben von dem deutsch-indischen Slapstickpaar Sanjay und Svenja Shihora. In der ehemaligen Bankfiliale am Rosa-Luxemburg-Platz haben sie eine täglich bespielte Bühne für Stand-Up-Comedy und andere Leckereien eröffnet. Das Publikum verfolgte die Premiere von Sonntagsbrandl in allerbester Laune, wohl auch, weil sich das Strickmuster der Veranstaltung an bewährten Konzepten orientiert. Etwa an die unvergessenen Abende von Tanja Ries: Die Gastgeberin lädt Künstler ein und singt sich zwischendurch selber eins. Dabei will`s die Brandl allerdings nicht belassen, sie wird jeweils auch eine eigene Kurzgeschichte verlesen, die immer von einem anderen Künstler am Flipchart live illustriert wird. Brandls Ansage an ihre Bühnengäste: „Ihr könnt machen was ihr wollt, nur kein Varieté“. Was allerdings bereits bei der Premiere von einem äußerst wohlgeformten Hula-Hoop-Artist namens Tigris neckisch übergangen wurde.

    Überhaupt ist die Stimmung gut an den neuen Spielorten der Stadt. Das Restaurant- und Partyschiff  Hoppetosse im malerischen Treptow hat seine Kleinkunstschiene stark ausgebaut. Und die Bar jeder Vernunft hat sich zu ihrem zehnjährigen Jubiläum in diesem Sommer eine zweite, ständige Spielstädte namens TIPI geschenkt. Dieses heißt nicht nur so, sondern sieht auch aus wie ein Zelt. Und steht pikanterweise ziemlich genau dort in unmittelbarer Nähe des Kanzleramtes, wo Irene Mössinger ihr ursprüngliches Tempodrom-Zelt abbauen musste. Darüber grämt sich aber niemand, schließlich haben sich die Berliner allmählich an das neue, steinerne Tempodrom am Anhalter Bahnhof gewöhnt. Die Bar-Familie ist übrigens trotz Geburtstagsstress gewohnt rührig geblieben. Nicht nur, dass die Film-Aufzeichnung der legendären „Im Weißen Rössl“-Inszenierung auf Großleinwand die Fans erfreute. Ursli alias Christoph Marti von den Geschwister Pfister fand die Zeit, in einem liebenswerten Country-Programm erneut sein Bühnengeschlecht zu wechseln und als Ursula West – the daughter of Country in Erscheinung zu treten. Zuvor hatte Marti auf seiner Stammbühne ein richtiges Theaterstück inszeniert: Die Komödie „Therapie zwecklos“ von Christopher Durang. Im Ensemble: Mit-Pfisters Andreja Schneider und Tobias Bonn, sowie Meret Becker und Teufelsberg-Comedian Ades Zabel.

    Auch von Zotenqueen Desirée Nick ist ein Ausflug ins ernste Fach zu verzeichnen: Im Studio des Renaissance-Theaters lieferte sie eine brillante Vorstellung im Ein-Personen-Stück „Nichts Schöneres“ von Oliver Bukowski. Ungeschminkt und durchgängig in sächsischer Mundart verkörperte die Nick in diesem dramatischen Monolog eine vereinsamte Frau in einer furchterregenden Wohnung. Dabei beeindruckte die Ernsthaftigkeit, mit der sich die Entertainerin dem Innenleben ihrer Figur stellte. In ernsthaften Rollen möchte man die ehemalige Religionslehrerin Nick noch viel öfter sehen. Doch sie denkt wohl nicht daran: Kaum war die letzte Vorstellung gespielt, hatte schon das neue Comedy-Programm von Desirée Nick Premiere. Titel: „Das Schlimmste“.

    Dieses ist bekanntlich ja gerade gut genug für den „Kitsch und Kacke Club“, der übrigens von der winzigen Scheinbar ins eingangs vorgestellte Kookaboorra gezogen ist. Letztes Jahr hatte Kitsch und Kacke-Comedian Otto Kuhnle den Comedy-Preis der „Wühlmäuse“ gewonnen. In diesem Jahr war nun sein Bühnenpartner Kurt Krömer dran, er kriegte den Publikumspreis. Der Jurypreis ging an den Münchner Wortwitzler Willy Astor. Kurz zuvor hatte Ex-Phrasenmäher Frank Lüdecke die Bühne der Wühlmäuse noch regulär bespielt. „Bilanz“ hieß sein Programm, darin beschäftigte er sich mit dem Orkus, über den das wilde Leben nach dem 40igsten Geburtstag offenbar unweigerlich geht (mangels eigener Erfahrung muss die Rezensentin dabei auf Berichte von Betroffenen zurückgreifen). Lüdecke zeigte sich einmal mehr als routinierter Kabarettist mit Message, der einen weiten Bogen um Comedy macht und trotzdem zu unterhalten weiß.

    A propos Comedy: Thomas Hermanns, mit seinem Quatsch-Comedy-Club Mitbegründer des großen Booms dieser Sparte, zieht mitsamt seiner Show (und TV-Sendung) von Hamburg nach Berlin. Ab November wird der QCC in der „Kleinen Revue“ des Friedrichsstadtpalastes aufgezeichnet. Hermanns hat das 300-Plätze-Theater auf eigene Kosten umbauen lassen.

    Insgesamt herrschen zur Zeit also paradiesische Zustände für die Freunde des gepflegten Ablachens in Berlin. Und die Künstler selbst sorgen bereits für Nachwuchs: Samenspender oder andere Ergüsse haben Musenwunder Annette geschwängert, sie wird im vierten Teil des gleichnamigen Erfolgsprogramms nun von Barbara Klehr vertreten. Sage noch einer, Kleinkunst habe keine Wirkung.

     

    Redaktion: Susann Sitzler

     

    Termine

     

    Mehringhof Theater:

    1. – 12. Oktober 02:

    Reiner Kröhnert: „Sieben gegen Schröder“ (Kabarett)

    15. – 26. Oktober 02:

    Mittwochsfazit mit neuem Programm (Schaulesen)

    29. Oktober bis 9. November 02:

    Theatre du pain: „Brot und Spiele“

     

    Wintergarten Varieté:

    bis 3. November 02:

    Sterne des Varietés III: „gewidmet Grock“

    7. November – 2. Februar 03:

    Sterne des Varietés IV: „gewidmet Charlie Rivel“

    jeweils Mittwochs 16 Uhr: „Varieté zum Tee“ (mit Highlights des Abendprogramms)

     

    BKA-Theater:

    2. bis 13. Oktober 02:

    Ham & Eg: „Märchenland der Travestie“ (Trevestie-Comedy)

    16. bis 27. Oktober 02:

    Ludwig Müller: „Blaues Blut“ (Sprachkabarett aus Wien)

    30. Oktober bis 3. November 02:

    Caspar & Bianca: „Das neue Programm“ (lesbische Musik-Comedy)

     

     

     

     

    2002-09-15 | Nr. 36 | Weitere Artikel von: Susann Sitzler





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