pfanntastisch!
Jury in Entscheidungsnot – erstmals drei Gewinner beim St. Ingberter Kleinkunstpreis:
„Ich bin dein Nachtgespenst“, jedenfalls behauptet sie das in ihrem Programm. Verena Guido war die absolute Überraschungssiegerin bei der 19. Woche der Kleinkunst in St. Ingbert. Überraschungssiegerin deshalb, weil sie vorher niemand auf der Rechnung hatte, und weil für sie eigens und erstmals in der Geschichte des Festivals ein Sonderpreis gestiftet wurde. Die Jury gab bei der Bekanntgabe der Sieger offen zu, dass sie in diesem Jahr in Entscheidungsnot geraten war. Verena Guido singt deutsche Chansons, tief- und hintergründig, begleitet sich selbst auf dem Akkordeon oder lässt zu Pianoklängen ihre Stimme sphärisch durch den Raum schweben – das sind fast magische Momente für den Zuschauer, doch was heißt Zuschauer? Eigentlich ist man geneigt die Augen zu schließen und nur zu hören.
Neben dem Sonderpreis gab es natürlich auch die regulären Hauptpreise. Der eine ging an Faberhaft Guth. Dietrich Faber und Martin Guth, schon zum dritten Mal in St. Ingbert dabei, fallen sich in ihrem „Roadkabarett mit Dorf und Totschlag“ permanent gegenseitig ins Wort und schließlich scheitert die Präsentation ihres Buches, dass sie angeblich geschrieben haben, daran, dass ihre Figuren doch allzu lebendig sind. Vom Buch, einem Krimi, erfährt man immerhin: „Jörg freute sich sehr auf die Beerdigung, denn schließlich hatte er den Toten ja ermordet.“ Aha – ist ja vielversprechend – doch dann stürzt der Computer ab, sie landen bei der schwulen Servicehotline der Telekom, die mit allem möglichen Computerkauderwelsch nervt und treffen auf Patrick, der völlig Verben-frei durchs Leben geht: „Nix Gabi, immer mal neue Schnalle!“. Am Ende hat das Publikum ein temporeiches Feuerwerk erlebt, dass nur eine Frage offen lässt: Was ist jetzt mit Jörg?
Der andere Hauptpreis und der Publikumspreis gingen – auch das völlig korrekt – an den Christoph Sieber mit seinem Programm „Sie haben mich verdient!“. Sieber, der auch beim Kabarettwettbewerb in Melsungen dieses Jahr den Jury- und Publikumspreis "Scharfe Barte" gewann, ist ein Wortakrobat, der auf der Grenze zwischen Kabarett (mit vielen aktuellen politischen Pointen) und Comedy balanciert. Und die wird sowieso immer fließender. Sieber präsentiert Marcel Reich Ranicki als einzig wahren Oppositionsführer – ein Selbstläufer obwohl die Performance hier noch ausbaufähig ist – und philosophiert über die Rente: „Viele denken in dem Moment an die Riester-Rente. Ich denke an meine Rente.“ Aus kleinen und kurzen Boshaftigkeiten entwickelt Siebert Gedankenketten, bei denen er das Tempo forciert, immer schneller spricht, bis die Stimme sich überschlägt. Dann fällt die Spannung ab, um gleich wieder aufgebaut zu werden bis zum nächsten Höhepunkt. Das Ganze erinnert an eine Bergetappe der Tour de France.
Apropos France! Die Perspectives – das Festival ist gewachsen. Seit einem Jahr wird das deutsch-französische Theaterfestival (früher war „deutsch“ nicht Bestandteil) grenzüberschreitend finanziert und präsentiert. Das Departement Moselle ist Mitveranstalter. Zum letzten Mal unter der Leitung von Laurent Brunner wollte allerdings nicht so richtig Festivalstimmung aufkommen. Die Gefahr durch Vielfalt zu zerfasern ist nach wie vor gegeben. Bei dem engeren Rahmen, den man früher wählte, wußte das Publikum, was es erwarten durfte. Und die Perspective-Fans erwarten vor allem Experimente und Avantgarde. Das bot in diesem Sommer vor allem „Embouteillage“ (zu Deutsch „Stau“): 22 Geschichten in 22 Autos, eines hinter dem anderen im dunklen Wald auf der deutsch-französischen Grenze.
Die neue künstlerische Leiterin Michèle Paradon, seit 1988 Chefin des Metzer Kulturzentrums Arsenal, will die Perspectives 2004 in diese Richtung weiterentwickeln.
2003-12-15 | Nr. 41 |