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    Stilbrüche

    Zum 10. Mal ging in diesem Jahr der dreitägige Würzburger Kultur-Jahrmarkt (kurz KuJa) über die Bühne. Während sich die meisten Festivals auf klare Zielgruppen und stilistische Ausrichtung orientieren, spricht der KuJa ein möglichst buntes Publikumsgemisch an. Als jährliche regionale Kulturwerkschau aller Sparten ins Leben gerufen, bezieht dieses Dreitages-Event sein Profil und seinen Reiz durch die extreme Bandbreite der Darbietungen. Stilbrüche im Programmablauf gehören zum Konzept und sind zumindest in ganz Franken zum Markenzeichen geworden: da folgen auf die Reggaeband „Leo’s Den“ Akrobatik und Comedy der Gauklertruppe „Lastenausgleich“. Klassik, Chansons, Theater, Pop, Tanz, Blues, Kabarett, Liedermacher, Comedy, im Dauermix. Und das szenenübergreifend gemischte Publikum hat sich auf diese Wechselbäder eingestellt. Ruhige und anspruchsvolle Darbietungen werden ebenso begeistert angenommen, wie Lachnummern oder fetzige Bands. Außenrum gesellen sich eine Kunstaustellung, das Kinderprogramm, ein sonntägliches Folkfrühstück, und natürlich ein Wettbewerb für Nachwuchsbands. Jahr für Jahr bietet der Würzburger Kulturjahrmarkt ein pralles Kulturwochenende kreuz und quer durch alle Stil- und Spielarten der Musik und Kleinkunst. Ein Veranstaltungskonzept, das Schule machen könnte.

    Gespannt wartete man im ausverkauften Nürnberger Burgtheater auf das aktuelle, zweite Programm von Thomas Pigor & Benedikt Eichhorn. Zur Überraschung aller, die sich im alten Programm über Pigor’s Gemeinheiten gegenüber dem Klavierbüttel Eichhorn amüsiert hatten, tritt zu Beginn von „Volume 2“ Eichhorn in den Vordergrund und moderiert während sich Pigor auf’s Singen beschränkt.  Natürlich geht das nicht lange gut, der Meister übernimmt unwirsch das Zepter und Eichhorn steht erneut als Depp da. Dieses fiese Rahmenhickhack zwischen den beiden Akteuren ist allein schon das Eintrittsgeld wert. Doch geht es uns ja um Pigor’s neue, deutsche Chansons. Und die halten sich an die extrem hohe Meßlatte aus dem ersten Programm. Genüßlich taucht er kohlrabenschwarze Bissigkeiten in ausgefeilte Wortjonglagen, haucht und röchelt Verbalerotisches oder klamaukt ausgelassen aber genial Lieder in der „B-Sprache“, die bei Kindern gern als Geheimcode benutzt wird, verteilt einen saftigen Seitenhieb auf die Kollegen von der Comedy-Fraktion und möchte – ja Bescheidenheit war noch nie sein Ding - nicht so enden wie Elvis. Wir erleben Songentertainment auf dem Hi-End-Level. Ein besonderes Schmankerl hat sich der Wahlberliner Pigor für die Zugabe im Nürnberger Burgtheater aufgehoben: in tiefstem Rhönfränkisch outet er sich beim Schafkopf-Rap „Der Beck“ als gebürtiger Franke.

     

    Bühnen-Feature:

    Das Nürnberger Burgtheater

    Ist das alles? – denke ich, denn ich hatte mir unter dem Burgtheater Nürnberg einen Kleinkunsttempel par excellence vorgestellt. Statt dessen ein enges Foyer mit Eintrittskasse am Tresen und ein noch engerer Zuschauerraum mit den berühmt berüchtigten 99 Sitzplätzen. Die einfache Bühne aus Platzgründen  in die Ecke gequetscht  - alles sehr hautnah. Ein Laden, der also weder durch Ambiente, Ausstattung oder Größe glänzt, sondern seinen guten Ruf ausschließlich auf kontinuierliche und liebevolle Programmarbeit stützt. Man ist stolz auf die eigene Pionierarbeit, zeigt regelmäßig gute österreichische Kabarettisten und gibt auch einheimischen Newcomern Starthilfe. Stargastspiele werden in die städtische „Tafelhalle“ mit 500 Plätzen ausgelagert. Überregionale Bedeutung haben die hauseigenen Kabarett-Tage im Herbst und der „Deutschen Kabarettpreis“, der jeweils im Januar vergeben wird, erlangt. Unter dem Motto „Lieber klein, aber immer voll“ ist das Burgtheater seit fast 15 Jahren nahezu konkurrenzlos die Kabarettadresse in Nürnberg!

    Eine mittelständische Brauerei in der hohenlohschen „Pampa“, ein voller Parkplatz und im Brauereihof ein, beheiztes Zirkuszelt mit 350 Sitzplätzen an Bistrotischen, ausverkauft! Drei Wochen lang gastierte das mobile Varieté Et Cetera  mit der Produktion „Gelbe Zeiten, lila Zeiten“ in Distelhausen bei Tauberbischofsheim. Drei Wochen lang stürzt die Truppe sich und ihr Publikum ins perfekt inszenierte Chaos, das sich nach anfänglichen Verwirrungen zu einer rasanten Varietéshow entwickelt. Bereits im Foyer wird man mit dem mürrischem Hausmeister konfrontiert, der sich im Dauerclinch mit dem aufgeregtem Regisseur (Leute, heute sind wir „live“) und dem beleidigten russischen Zirkusdirektor befindet. Kamerakabel werden durch Stuhlreihen gezogen, die erste Reihe muß komplett nachgeschminkt werden. Hektik, Streß und nervöse Countdownstimmung bis zum „Sendebeginn“. Man hat der Nummernshow einen Rahmen verpaßt, der Spaß macht und die Zuschauer als TV-Statisten mit einbezieht. Auch das Dargebotene – eine flinke Folge von origineller Artistik, Comedy, Parodie, Zauberei, Tanz und geplanten Pannen – ist fetzige Kleinkunst Marke sehenswert. In der Pause schlüpfen die smarten Artisten in die Kellnerrolle und flirten nicht nur mit den anwesenden Damen; Entertainment bis ins Detail. Nach einem prall gefüllten 2. Teil und zweieinhalb Stunden Programm ist das Publikum restlos begeistert. Man kann jedem Kulturamt wärmstens empfehlen, sich beim Management von Et Cetera (06722-71989) um eine Gastspielzeit (2-6 Wochen) in der nächsten Spielzeit zu bewerben.

    Nur  fünf Männer hatten sich unter die gut hundert Frauen gemischt zum Kabarett bei der Eröffnungsveranstaltung der Internationalen Frauenwoche in Würzburg. Natürlich wird „mann“ da geoutet, mein Schreibblock auf den Knien ist mir da doch etwas peinlich. „Voll der Gnade“ heißt das aktuelle Programm von Schiffer/Beckmann aus Köln /Düsseldorf. Nach dem Eingangssong, in dem  - mit Seitenblick auf gewisse TV-Shows - das Recht auf Dummheit für alle eingefordert wird, stecken die beiden die Zielrichtung des Abends ab: Raus aus dem feministischen Meinungsgetto, hin zum mehrheitsfähigen Programm! Deshalb gilt die erste Halbzeit überwiegend den Männern. Es geht also – wie wir in einer Tiersendungs-Persiflage erfahren – um die „gemeinen Bubentiere im paarungsfähigen Alter“. Die Idee ist nicht gerade neu, aber vor allem in der Beschreibung der Pubertäts bestens ausgearbeitet. Der Papst, die Bundeswehr, das Männerspielzeug Ferrari und immer wieder Jürgen Fliege („Wer den zum Freund hat, braucht keine Feinde“) sind die Themen der ersten Hälfte. Die pointiert vorgetragenen und musikalisch brillanten Songs sind dabei wichtiges Programmelement. Daß nach der Pause sich die Häme in Richtung Damenwelt wendet, ist erfreulich konsequent. Bis auf ein, zwei dünne Nummern bewegen sich Schiffer/Beckmann auf handwerklich hohem Niveau. Dennoch sehen wir auf der Bühne ein ungleiches Duo: die souveräne und dominante Frontfrau Ruth Schiffer und die solide brave Beckmann, die zwar mehr ist als eine Klavierbegleitung aber dennoch neben der Schiffer keine gleichberechtigte Partnerin abgibt.

    Am 1.Oktober hatte Luise Kinseher mit ihrer Produktion „Ende der Ausbaustrecke“ Premiere und Solo-Debüt am Würzburger Neunerplatz. Genregrenzen verschwimmen bei diesem Ein-Frauen-Programm. Als  groteske Krimikomödie mit kabarettistischen Typenstudien könnte man das Werk etwas umständlich klassifizieren. Unter der Regie von Thomas Heinemann hat Luise Kinseher ein äußerst unterhaltsames Stück geschaffen, in dem sie aus dem Blickwinkel sehr unterschiedlicher Charaktere über eine Frauenleiche sinniert, die auf der Toilette liegt. Da ist die wichtigtuerische Klofrau, die die obskursten Verschwörungstheorien aufstellt und Parallelen zum Ableben von Lady Di vermutet. Die Leichendarstellerin aus Krimiserien, die „im Altersheim aufgewachsen ist“ und bei der Toten auf dem Klo eine Verwechslung mit der von ihr verkörperten Rolle wittert und sich am Ende um ihren Job geprellt sieht, eine norddeutsche Seniorentouristin, die über den Tod im Allgemeinen und den im Urlaub im besonderen nachdenkt und die ihre eigene Leichenfeier schon organisiert hat. Neben zwei (zumindest bei der Premiere noch) blassen Nebenrollen bringt eine völlig abgedriftete Kommissarin mit ihren philosophisch absurden Ergüssen eine schrillen bis surrealistischen Touch ins Geschehen. Wer auf fliegende Rollen- und Dialektwechsel, auf schwarzen Humor und eine leicht mysteriöse Handlung steht, ist bei Luise Kinseher und ihrem Kabarett-Thriller bestens aufgehoben.

    Redaktion: Volker Peter
    1998-12-15 | Nr. 21 | Weitere Artikel von: Volker Peter





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