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    Straßenkunst im Staatsauftrag

    Einige Entwicklungen in Frankreichs Szene können für das Straßentheater insgesamt wegweisend sein. Nicht nur daß die Szene hervorragend vernetzt ist via Internet und e-mail-Listen. Wer auf französisch surfen möchte, dem bietet sich als Eingangsportal die Homepage der Aktivisten aus Brest, www.lefourneau.com mit Links zu Kompanien, Festivals u.a.

    Die Entwicklung ist inzwischen so weit fortgeschritten daß aus Straßenkunst längst Staatstheater wurde. Das neue Jahrtausend wurde offiziell mit einer Trommlerorgie der Kompanie Transe Express und deren « lacher de violons» eingestimmt. Schon ein Jahr zuvor rollte ja das Riesenrad von Generik Vapeur über die Champs-Elysees. Straßentheater hat in offiziellen Zeremonien den Choreografen Philippe Decouflé verdrängt.

    Inzwischen läuft die Diskussion darüber an, wie Kreateure des Bereiches Straßenkunst ihre Autorenrechte wahrnehmen können. Das Kulturministerium und die Autorenvereinigung SACD (www.sacd.fr) bemühen sich, auch Choreografen, Kostümbildnern, Bühnenbildnern, Feuerwerkern etc. den Status Autor zuzuerkennen. Kreation ist eben nicht nur Text.

    In Lyon gelang es dem Großereignis Biennale de la danse, nach dem Vorbild lateinamerikanischer Karnevals ein choreografisches Freiluftfestival in Form eines Umzugs zu etablieren. Wie in Brasilien arbeiten die Kompanien mehrere Monate lang an der Realisierung ihres Auftritts. Professionelle Choreografen setzen einfache Bürger der Stadt in Szene. Das Ziel lautet Integration. Denn die Bewohner der gefürchteten Vororte tanzen gemeinsam mit jenen des etablierten Zentrums. So lernen die verschiedenen Hautfarben und Schichten sich kennen und schätzen. In gewissem Maße funktioniert das tatsächlich. Immerhin sah die Stadt in ihrem Zentrum zu welcher Kreativität und künstlerischer Dizsplin die so verrufene Banlieü fähig ist. Anfänglich gab es Berührungsängste und auch politische Widerstände. Doch die sind nun überwunden.  Das dritte Défilé im September 2000 zeigte nicht weniger als 28 Gruppen (5.000 Teilnehmer bei einem Budget von 5 Mio Francs). Natürlich steckt dahinter das choreografische und pädagogische Talent der Animateure, alles gestandene Choreografen von denen die meisten schon einige Produktionen dieser Art geleitet haben. In der Regel wird auch hier für eine einzige Aufführung kreiert. Eine Produktion hob sich besonders heraus durch eine komplexe Dramaturgie und die Verbindung von Livemusik, afrikanischem Gesang, Tanz und Theater. Zum Glück war es gerade jene Choreografie die auch nach der Biennale eigenständig weiter leben wird. Autorin (s.o.) ist die Hannoveranerin Marion de Castellane. Einst in Ballet ausgebildet, tanzte sie bald Hip Hop bei Black Blanc Beur und gründete später die Kompanie Käfig, die sich sofort als eine der reifesten Truppen des Genres profilierte. Allerdings wurde Marion hinausgekäfigt als die Männer das Kommando übernahmen. Heute ist sie unschlagbar im choreografieren von Paraden. In Lyon zauberte sie für ihr Corps de ballet aus Nicht-Tänzern mit Elementen von afrikanischem und zeitgenössischem Tanz, jazz dance und Hip Hop eine völlig neue Tanzerfahrung. Dazu kamen Stelzenläufer, ein Griot, Musiker und Sängerin auf einem fantasievollen Wagen u.a. Das Argument von « Hypnos et Khepri » ist eine Reise durch ägyptische und asiatische Mythologie. Das Stück dauerte etwa 40 Minuten und wurde auf dem Umzug zweimal durchlaufen, läßt sich aber an vielerlei Räume und Bedingungen anpassen. Die spannende, farbige und energiegeladene Begegnung mit dem Skarabäus ist absolut flügge.

    Neuland und weltweit einmalig ist die Kreation einer Cité des arts de la rue deren Leitung Michel Crespin übernehmen wird, der damit seine Mission als historischer Über-Papa das Straßentheaters fortsetzt.

    Ein ehemaliger Industriekomplex von 33 .000 qm am Rande von Marseille auf dem Kompanien aus den Bereichen Straßentheater, Zirkus und plastischer Kunst gemeinsam experimentieren können. Gleichzeitig gibt es Raum für Workshops. Und natürlich wird hier auch das Centre national des arts de la rue untergebracht das weiterhin Lieux publics heißen wird. Crespin übergibt dessen Leitung an Pierre Sauvageot von Decor Sonore. Die Stadt in der Stadt mit ihren Hallen wird selbst zum Theater. Eine der ersten Inszenierungen war ein Stück von Bernard-Marie Koltes im natürlichen Bühnenbild. Da inszeniert dann das Theater den Ort, anstatt umgekehrt.

    Und das ist ja eine der Richtungen in jener Welt die man inzwischen getrost Kunst im offentlichen Raum nennen darf. Ein großer Wurf gelang der Kompanie Retouramont in Zusammenarbeit mit einem Kollektiv von Architeketen, Urbaine-33. Retouramont praktiziert vertikalen Tanz. Was geschah ? Anläßlich eines Architekturkongresses beauftragte das Kulturministerium die Gennanten, einen öffentlichen Ort mit Tänzern zu inszenieren. Die Wahl der Kompanie fiel auf einen monströsen Verkehrsknotenpunkt in einem urbanen Niemandsland, wo sich, in Sichtweite des WM-Stadions Stade de France, Kanal, Autobahn, Fernstraße, TGV und Vorortbhan kreuzen. Hier tanzten 20 menschliche Würmchen in roten Overalls, an Seilen hängend oder in gigantischen Betongalerien spazierend, zu eigens kreierter urbaner Musik. Die Tradition, Kunst durch staatliche Förderung – doch das heißt auch : Instrumentalisierung - neue Experimentierfelder zu öffnen, gibt es mindestens seit dem Sonnenkönig. Event-Kreation : Einmalige Großereignisse wie diese « traversée urbaine » im öffentlichen Auftrag sind ein sich erweiternder Markt für Kompanien die im Freien arbeiten.

    2001-03-15 | Nr. 30 |





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