Zärtlichkeit kann ein überzeugendes Thema sein. Von dem schwierigen Weg zu ihr erzählt das Duo Banc Public, das in Sotteville lès Rouen im Off des Festivals VivaCité ins Auge sprang. Jongleur und Tänzerin auf einer Parkbank. Seine Annäherungsversuche wehrt sie so lange und heftig ab, dass man schon nicht mehr glaubt, dass es noch zärtlich werden kann. Erst seine Jonglage weckt ihr Interesse. Das Rollen der Bälle weckt Vertrauen. Was in zwanzig Minuten Contact Dance (im doppelten Sinn) und Jonglage auf und um die Parkbank entstehen kann, liess sich im In-Programm von Chalon und Aurillac erleben.
Eine Reise in das (eigene ?) Innere verspricht Théâtre du voyage intérieur. Schuhe ausgezogen, und dann geht es paarweise durch einen Schlauchtunnel (ziemlich vaginal) in ein igluförmiges Rund (« Chez moi dans ton cœur » - Bei mir in Deinem Herzen), in dem uns ein Paar schlicht aber poetisch die Geburt seiner Liebe vorspielt. Splitternackt und am Ende reichlich schwitzend. Ohne Sex und ganz in Romantik, Humor und Lebensfreude schwebend, aber mit Freude an der Entdeckung des anderen Körpers. Eva und Adam tanzen und lachen. Und kein Gewitter am Horizont ! Der Regisseurin Lea Dant geht es darum, totale Intimität zu schaffen. Die Keimzelle dieser Hommage an die Liebe liegt daher so abgeschottet wie möglich. Das ist zwar genau das Gegenteil von Strassentheater, aber es liegt im Trend der Szene (und ist koproduziert von Chalon, Sotteville, Cognac Lieux publics u. a.) Und vor Allem hängt auch hier der Raum unmittelbar mit dem Thema des Stückes zusammen. Wer glücklich ist, hat nichts zu erzählen sagt man in Frankreich. Und in der Tat, es geht hier um Glücksgefühle. Ob dieser Honeymoon banal ist oder, wie beabsichtigt, ein Akt der Subversion gegen die erdrückende Macht der Konflikte, das muss am Ende Jeder für sich selbst entscheiden.
Keine Diskussion dürfte es um Théâtre Rouge geben, das mit Zärtlichkeit in den öffentlichen Raum vordringt, dessen Akteure aber Masken tragen. Seit Jahren streichelt der « Caresseur public » mutige Passanten, die sich in den Arm nehmen lassen. Drei Stunden sitzt der öffentliche Streichler mit weisser Vollmaske und im Gewand des Mimen am Rande eines Platzes. Meistens hat er nichts Zärtliches zu tun. Und demonstriert so das Manko und Jedem seine Schwellenangst. Warum lasse ich mich nicht von ihm herzen ? Eine Präsenz, die zumindest innerlich nicht unberührt lässt. Und jetzt streicheln sich in der Kompanie auch noch die Männer ! Auch sie sind maskiert, tragen undefinierbare Gummiköpfe zwischen Mensch, Tier und Hilflosigkeit. Beulen an den Waden, gebrechlicher Gang und sonniges Gemüt. Kinder, ET’s oder zwölf Jünger auf einer verfremdeten Vatertagstour ? Wunderbare Mimen, das ist sicher. Gekleidet in Leinen, wie zu einer Expedition, in Rugby-ähnlichen Trikots aus Leinen, und mit auf die Brust genähten Griffen zum Festhalten. Immer wieder legt jemand seinen Kopf auf die Schulter eines « Bruders ». « Avec Fraternité » heisst das zärtliche Spiel untereinander und mit den Passanten, die auch mal eingeladen werden, sich sanft auf Kopfkissen schlafen zu legen. Etwas Kindliches haben diese Gestalten, aber der wahre Bezug ergab sich zu einem besonderen Publikum : eine Gruppe mongoloider Rollstuhlfahrer, die in Chalon sur Saône zusah, grübelte nicht sondern fühlte sich sofort in dieser spontanen, zärtlichen Welt zu hause. Théâtre Rouge ist eine Truppe, die den sozialen Körper noch wirklich bewegt. Bei allen Umwegen über Maske und Kostüm bleibt hinter der Unschuld der Figuren doch das Bild einer neuen Art der Beziehung unter Männern klar erkennbar. Diese Brüderschaft hat therapeutischen Wert.
Nicht Jeder geht zum Streicheln auf die Strasse. Ebenfalls grossartige Körper- und Kostümarbeit bieten Da Motus aus dem schweizerischen Fribourg. Ihr wie in Alufolie hauteng verpackter « Urbanothropus » ist Kunst pur, die aus einer weit vergangenen Zukunft herab steigt, oder von einem Dach, einer Skulptur und was sich sonst noch erklettern lässt. Nächtens, wie einst Fantomas. Oder sie werden selbst zur lebenden Skulptur. Brigitte Meuwly und Antonio Bühler sind gestandene Akrobaten. Auf den ersten Blick wirken sie sphärisch und asexuell, auf den zweiten dann doch wieder subtil erotisch. Reptilien, Amphibien, Ausserirdische ? Diese Kreaturen sind nicht Fremdkörper, sondern Emanenz einer urbanen Landschaft. Was sie von anderen Walkacts meist vegetalisierender Homotypen unterscheidet ist nicht nur dass sie hochklassige Akrobaten sind, die ohne Stelzen auskommen. Da Motus machen ihre Körper offensiv zum Kunstwerk. Nie betteln sie didaktisch um Mitleid für die verstörte Kreatur.
Ähnlich fremdartig und absolut skurril : Espèce humaine. Eine « visuelle » Solo-Performance im Schaufenster eines Cafés. Unbeirrt von irritierten Blicken isst ein Herr im Frack Salatblätter, zerquetscht Vogeleier, neben ihm eine Schildkröte. Gesicht und Arme sind mit rissiger grauer Farbe bedeckt. Trotz Rose im Knopfloch wird klar : der Gentleman ist eine Katze. « Espèce humaine » heisst die Performance. Gattung Mensch. Gerade deren Identität wird von Alain Ténières alias Les Solitudes éphémères hinterfragt. Manche Passanten bemerken ihn gar nicht. Vielleicht ist das Animalische im Menschen uns vertrauter als wir glauben ? Immerhin zwei Stunden dauert diese ephemere Einsamkeit. Auftritte im Schaufenster gehören einfach zum Besten im Strassentheater.
Auch eine Parade kann zärtliche Spielchen enthalten. Die Compagnie Off entführt in die Welt des Zirkus. Neun rote Giraffen verzaubern eine Stadt am Tag oder in der Nacht. Ein trauriger Clown, der die grosse Trommel schlägt une eine trällernde Operndiva gehören ebenso zu « Les Girafes » wie die Kompanie in ihren leuchtend roten Livrées, Dompteure und Ordnungsdienst zugleich. Die fast schwebende Konstruktion der Giraffen, deren Hälse und Köpfe luftig-leicht wie Insekten wirken, birgt so viel Poesie, dass man die ganze Nacht oder den ganzen Tag mit ihnen laufen würde, auch wenn es im Laufe der Parade weniger Feuerwerk gibt als zum Beispiel bei Karnavires. Doch was können diese Giraffen alles erfinden ! Ihre neun Köpfe sind ein einziger Kontakthof und in fünf Metern Höhe verleihen sie der Stadt ein neues Gesicht. In Sotteville brachten sie in tiefer Nacht die Kirche zum Leuchten und die Glocken zum Klingen, damit Clown und Diva sich vermählen konnten. Dann liessen sie im Eisenbahndepot einen Waggon mit Feuerwerk bestücken und Licht sprühend davon fahren, so dass auch das Spektakuläre nicht zu kurz kam. So surreal sind diese Giraffen, dass sie nur indirekt auf Afrika verweisen.
Anders Oposito mit « Les Trottoirs de Jo’bourg », einer Parade die das Produkt einer langen Afrikareise ist und lebendige Eindrücke aus Äthiopien und Südafrika sowie Recherchen über den Einfluss afrikanischer Kunst auf die europäische Avantgarde verarbeitet. Es beginnt grossartig, nämlich lautlos und mit gebückten Gestalten, die in grünlichem Licht Wellblechstücke auf dem Rücken tragen. Auch das Runddorf dessen Krieger das Publikum mit Lanzen bedrohen, hat Form und Originalität. Auf anderen Stationen wird dagegen so ideenlos getrommelt und choreografiert, dass die Faszination schnell nachlässt. Doch dann kommt, zum Glück, die Parade der Tierwelt , eines Amazonasdschungels würdig und fast eine demonstrierende Kunstausstellung an der Gross und Klein bestens amüsieren.
Könige des Feuerwerkes sind Karnavires mit « Les Illumineurs. » In hohem Tempo laufen undefinierbre, archaische Fantasy-Magier durch die Stadt und halten immer wieder an, um einen Platz oder eine Strassenkreuzung mit pyrotechnischen Lichtspielen zu erhellen. Da ist beste Unterhaltung garantiert. Wie langweilig eine Parade sein kann, das zeigt die Kompanie 1.1 aus Barcelona. In « Ezequiel » wollen sie die Welt des biblischen Propheten aufleben lassen. Ihr Zug ist ziemlich unkoordiniert, die grossen Radachsen, auf denen die Artisten drehen, beherrschen sie (im Off von Chalon) nur mühsam. Es reicht eben nicht, mit einem Monstrum aus Draht und Eisen durch die Stadt zu ziehen, Techno dröhnen zu lassen und ab und zu Feuer zu spucken. Um das zu wissen, bedarf es eigentlich keines Propheten.
Auf der Liste für die nächsten Ausgaben stehen die grossen stationären Inszenierungen und der Tanz. Zum Beispiel Amoros & Augustin, Les Passagers, Les Grooms, KMK, Tortue Magique, Cogitatur, Sol Pico u.a.
Redaktion: Thomas Hahn