Das Abklopfen einst erfolgreicher Showformate auf ihre Tauglichkeit für unsere Zeit scheint Konjunktur zu haben. Über die Burlesque-Shows in Stuttgart und Berlin haben wir bereits berichtet. Das TraumZeit-Theater in Backnang gestaltete sein diesjähriges 7. Weihnachtsvarieté als orientalische Nacht. Und der Stuttgarter Friedrichsbau präsentierte jetzt unter dem Titel „Nostalgia“ Erinnerungen an die Sideshows vergangener Tage, die etwas in Verruf geraten sind, da ihnen das Zurschaustellen von Abnormitäten und Behinderungen vorgeworfen wird. Aber was ist schon ‚normal‘? Sind künstlerische und artistische Spezialbegabungen noch normal? Ich denke: Nein. Man vergisst auch gerne, dass mancher ‚Behinderte‘ erst als Bühnendarsteller zu dem erfüllten Leben findet, das er sich wünscht. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den kleinwüchsigen Clown Klein-Helmut, der viele Jahre zum festen Bestandteil der Circus-Krone-Programme gehörte und das tun durfte, was er am liebsten tat: Seinem Publikum Freude machen. Dann kam er zum Circus Roncalli, wo sich alsbald ein gewisser Teil des Publikums so massiv beschwerte, dass Bernhard Paul das Engagement nicht verlängerte. Es dürfe nicht sein, dass in einem Circusprogramm Behinderungen ausgestellt würden. Hoffen wir, dass das Friedrichsbaupublikum weniger vorurteilsbeladen ist als das Roncalli-Publikum und die neue Show als das nimmt, was sie ist: Eine sehr theaternahe, stimmungsvolle Schilderung des von gegenseitiger Wertschätzung geprägten Miteinanders im Milieu des fahrenden Volks mit all seinen Spezial-Künsten. Gegen die Paralympischen Spiele hat ja auch niemand etwas. Lernen wir daraus, auf das Positive zu blicken, und nicht immer zuerst nach dem Negativen zu suchen.
Regisseur Ralph Sun macht es den politisch allzu korrekt Denkenden leicht, zunächst einmal in die Vorstellung zu kommen und dann erst zu urteilen. ‚Echt‘ ist sozusagen nur der kleinwüchsige Oleg Djachuk aus der Ukraine. Der „größte Mensch, der je gelebt hat“ wird nur gespielt (von Marcelo Pivoto aus Brasilien). Auch Circusunternehmer und Dompteur Monsieur Jules und sein Menschenaffe Gaspard aus Frankreich spielen ihre Rollen nur, von kurzen Einlagen artistischen Könnens unterbrochen. Die parodistische Dressurvorführung des Affen demonstriert sogar viel von einer Mensch-Tier-Beziehung, wie sie im Mittelpunkt einer modernen Tiernummer stehen könnte, bei der aus dem Dompteur längst ein Tierlehrer geworden ist. Die „puppengleiche Schlangenfrau“ Amélie Soleil bekommt nur wenig Gelegenheit, über ihre undankbare Rolle als sonstiges Mitglied der Truppe ohne besondere Aufgaben hinauszuwachsen, was dem Hutjongleur Lorenzo Mastropietro aus Italien bestens gelingt. Seine Jonglagen entwickeln sich ganz zwanglos aus dem Fortgang der Handlung. Und Andrey Silchev als „stärkster Mann der Welt“, Evgeniya Panina am Luftring und Silea an einer doppelten Kette statt an einem Schwungseil arbeitend (Aireal-chains) haben richtige Auftritte wie in einem normalen Varietéprogramm auch. Artistischer Höhepunkt ist jedoch zweifellos Edd Muir, dessen Arbeitsgerät, der Chinesische Mast, schnell zusammengesteckt und inmitten des Zuschauerraums aufgestellt wird. Ohne sich in den Vordergrund zu spielen, musiziert und singt sich Fee Hübner mit Akkordeon, Harfe und Violine durch das Programm. Dem Friedrichsbaupublikum ist sie noch in guter Erinnerung von Auftritten mit ihren Brüdern in der Formation Tango Five, deren Musikalität und Bühnenpräsenz sie auch als Solistin teilt. Nach längerer Pause ist das Friedrichsbau-Varietéorchester in der bewährten Besetzung zurück; nur die musikalische Leitung liegt jetzt beim Tastenspezialisten Thomas Rother. Alles in allem ein sehr sehenswertes, ungewöhnliches Programm.
Im 7. Backnanger Weihnachtsvarieté, „ein orientalisches Märchen aus 1.000 und einem Traum“, hatten die Tänzerinnen Amouna und Beata a la Nar, die Flötistin Corinna Schwozer und Riyadh el Arif (nur mit dem Klang seiner Stimme und seiner Art zu sprechen), unterstützt von wenigen, aber wirkungsvollen Dekorationsstücken, die Fantasie der Zuschauer angeregt und auf die faszinierende Welt des Orients mit seinen Sultanspalästen, Geschichtenerzählern und Gewürzen eingeschworen. Sie betteten die Auftritte von Marina Colovos am Vertikaltuch und Tobias Grün mit tänzerischer Jonglage, sowie die Illusionen des Hausherrn Michael van Reed mit seiner neuen Partnerin Aldona in ein klug aufgebautes, stimmungsvolles Gesamtprogramm ein.