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    spirit and surprise


    Hans Gerzlich fordert ganz herzlich Geld für Alle! (WortArt 8204 / ISBN 978-3-941082-04-5; 19 Tracks, 65:01 min, live). Der gelernte Wirtschaftswissenschaftler und Marketingfuzzi teilt das Leben nach den Gesichtspunkten Aufwand und Nutzen ein. Natürlich sind da zunächst einmal die Werbungskosten bei der Partnerwahl zu beachten und zu betrachten. Eine laufende Liebe gleicht dann dem Produktlebenszyklus mit der Einführung, dem Wachstum, der Reife, der folgenden Sättigung und endlich dem Rückgang. Doch nach und nach verlässt er in seinem Programm die private Beziehungsebene, um sich programmatisch den Privatisierungsbeziehungen der Politik bei Telekom, Post und Bahn zu widmen. Die alten, behäbigen Staatsunternehmen und die überaus fragwürdigen Verfahren, diese an die Börse zu bringen, überzieht er mit einigem Spott. Ein freundlich-kritisches Programm, dem einige Klischees weniger im privaten Teil und etwas mehr Pfeffer im Privatisierungsteil gut getan hätten.

    Thomas Reis hat sich ebenfalls die alles entscheidende Beziehungsfrage gestellt: Machen Frauen wirklich glücklich? (conanima CA 26573 / Hörsturz booksound / ISBN 978-3-931265-73-1; 2 CDs, 14 Tracks,  65:01 min + 18 Tracks, 77:14 min, live). Er hechelt die Klischees zum Thema durch, denn wenn sie gänzlich falsch wären, so seine Logik, wären sie ja nicht Klischees geworden. Er bedient sie und veralbert sie, er spielt mit Worten und kalauert, er parodiert und spielt mit Rollen und den Publikumserwartungen, er provoziert gezielt, aber moderat mit vorlauten Frechheiten. Durch diese Vielschichtigkeit wirken auch schon häufiger gehörte Scherze wieder witzig. Die Hilde z. B. begleitet er als Redner bei diversen Heiratsanläufen mit unterschiedlichen Ausgaben der Spezies Mann. Vom Moslem bis zum Ossi, es ist nie wirklich das/der Richtige. Zwischendurch schweift er ein wenig in die Politik ab, eine Physikerin im Bundeskanzleramt wird spöttisch bedacht. Männer und Mütter, Kinder und Fußball, Frauen und Autos – bei Thomas Reis erfahren sie lachend, wie es wirklich (nicht) ist.

    Arnulf Rating jagt durchs Land, deckt auf, was so los ist, und präsentiert dem staunenden Publikum: Schwester Hedwigs allerschwerste Fälle (conanima CA 26574 / Hörsturz booksound / ISBN 978-3-931265-74-8; 34 Track, 78:22 min, live). Der Bundeswehroffizier, der für die Auslandseinsätze der Truppe wirbt; der BKA-Mann, der die zunehmende Überwachung wegen der drohenden Islamisierung preist; der Kardinal, der die Waffen segnet oder der Grüne, der für die Bundeswehreinsätze wirbt: dieser verrückte Haufen, der das Land beherrscht, bedarf dringend der Therapie. Dazwischen auch immer wieder wunderbare Einzeltreffer, z. B. gegen Helmut Kohl, der sich doch einstens bei seiner Schmiergeldaffäre so gar nicht erinnern konnte und nun schon drei Bände mit Erinnerungen geschrieben hat. Oder gegen den Aufklärungs- und Überwachungs-Schäuble, der seinen Parteispendenskandal bis heute nicht aufklären konnte und wollte. Temporeich und skurril wie stets trifft der alte Tornado ins Ziel.

    Bei Kalle Pohl geht es gemütlicher zu. In Kalles Kiosk (WortArt 4918 / ISBN 978-3-86604-918-5; 24 Tracks, 67:11 min, live) plaudert er aus seinem Leben zwischen der Kneipe seiner Eltern und dem Kiosk von Onkel Schäng. Wie er als Junge einmal allein im Kiosk übernachtete, wie er am Kiosk versucht hat, junge Damen anzubaggern oder ausgelaugte Jogger auf die Rolle schickte. Zwischendurch singt er noch ein paar Lieder, etwas, was er in früheren Jahren regelmäßig gemacht hat. Eine CD voller netter Dönekins. An Humor fehlt es in keinem Fall.

    Für eine Überraschung mit ihrem Debütalbum sorgte die Sopranistin Measha Brueggergosman, eine junge Afro-Franco-Kanadierin, mit einer wundervollen, weichen und klaren Stimme. Sie wählte für ihr Album Surprise (Deutsche Grammophon 4776589; 20 Tracks, 60:24 min, Texte) Kabarettlieder von William Bolcom, Arnold Schönberg und Erik Satie aus. Amerikanische Songs, deutsche Lieder und französische Chansons, eine wirklich ungewöhnliche Mischung. Natürlich interpretiert sie die Lieder nicht wie eine Chansonette im Kästnerschen Sinne, sie „trägt nicht vor“, schließlich kommt sie vom klassischen Fach, ihre Stärke liegt in der musikalischen Umsetzung. Eine Überraschung ist es auch überhaupt, z. B. Schönberg, den nicht gerade wohlgelittenen Schöpfer der Zwölftonmusik, mit erotischen Kabarettliedern in Verbindung zu bringen. Erik Satie, der hierzulande sowieso nicht übermäßig bekannt ist, und William Bolcom, der viel für seine Frau, die Schauspielerin und Mezzosopranistin Joan Morris schreibt und vor allem in den USA ein Begriff ist, sind anregende Entdeckungen zudem. Mal sehen und hören, womit diese junge Sängerin uns demnächst überrascht.

    Eine inzwischen auch schon historische Aufnahme von 1980 führt uns an die Anfänge der Liedersingerei in Deutschland überhaupt. Bärengässlin singt in ihrer historisierten Version Lieder aus dem 14. Jahrhundert. Der Mönch von Salzburg (Pläne 88952; 14 Tracks, 37:35 min, Texte) war ein damals populärer, heute aber namentlich nicht mehr bekannter Dichterkomponist und lebte offenbar im Umkreis des Salzburger Fürsten und Erzbischofs Pilgrem II von Puchheim (oder war er es gar selbst?). Wer jetzt trockene, fromme oder lebensfremde Hochlyrik erwartet, wird überrascht sein. Von Leib- und Liebeslust wussten die Menschen damals schon was und haben es besungen. Zudem geht der Mönch auch musikalisch neue Wege. Lange bevor der Mittelalterboom einsetzte, haben Bärengässlin in mehreren Produktionen alte Liedergesänge wieder hörbar vorgestellt. Eine wegweisende Einspielung.

    Seit weit über vierzig Jahre prägt Franz Josef Degenhardt die Liedermacherszene, und auch mit 76 Jahren bringt er immer noch anregende und interessante Texte zu Gehör. Dreizehnbogen (Koch/Universal 060251765705 (2); 10 Tracks, 47:42 min, Texte) ist der Name einer Brücke, die ihm als Metapher gilt und ihm die Möglichkeit gibt, eine gut 16-minütige Liedergeschichte zu erzählen, in der Historisches, menschliche Beziehungen und gesellschaftliche Strukturen zu einer atmosphärisch dichten Geschichte verknüpft werden. Auch auf dieser CD gelingt es ihm meisterhaft, die Illusionen und Konflikte unserer Zeit, z. B. den unsinnigen Traum vom digitalen Bohemien oder die Kollateralschäden des Krieges im Irak zu spiegeln. Zum Afghanistankrieg singt er einen Text von Theodor Fontane von 1858. Seine eigenen Träume und Visionen verarbeitet er, durchaus mit einiger Melancholie, in zwei Liedern, eines davon dichtete einst Louis Fürnberg. Diese beeindruckende Fähigkeit vom Väterchen, seit Jahrzehnten mit engagierten und sehr ansprechenden Liedern das Zeitgeschehen kritisch zu begleiten, erstaunt und erfreut immer wieder. Sohn Kai begleitet auf der Gitarre und zeichnet wieder für die Arrangements verantwortlich.

    Das Glück bist Du (www.torstenriemann.de; 11 Tracks, 43:15 min, Texte) glaubt Torsten Riemann und singt dann weiter: „Mach dir das klar. Wenn du es willst, wird jedes Wunder wahr. Das Glück ist JETZT! Das Glück ist HIER! Alles, alles ist in dir.“ Und so in diesem Stile weiter, und in seinen anderen Liedern ist diese etwas schlichte, positivistische, psychoszenige Schwarzweiß-Logik leider ebenfalls enthalten. Leider deshalb, weil die Lieder von Torsten Riemann schön und kraftvoll geschrieben, gesungen und gespielt sind. Man kann ihn eigentlich gut und gerne hören, ob am Klavier, der Gitarre oder dem Akkordeon. Nur bei den Texten sträubt sich einem doch oft das Nackenhaar. Für die Grauzonen des Lebens, in denen sich der normale, Miete zahlende Mensch so bewegt, findet er eben keine Akzeptanz und Worte, das Paradies oder der Abgrund, dazwischen ist wenig. Also, wer sich daran nicht stört, dem sei diese CD empfohlen.

    Die Schlaflieder zum Wachbleiben (Roof Music RD 2833359 /Indigo/Eichborn / ISBN 978-3-938781-92-0, 19 Tracks, 75:24 min, live) von Sebastian Krämer bewegen sich dagegen ziel- und treffsicher im dunkelgrauen bis tiefschwarzen Bereich. Wie so oft bei ihm. Die Produktivität, Fantasie und Virtuosität dieses Mannes, sowohl sprachlich als auch musikalisch, sind schon bemerkenswert. Er sieht am Klavier aus wie der unschuldigste Lieblingsschwiegersohn und ist doch voller skurriler und witziger und aberwitziger Einfälle. Er bringt Lieder und Texte für die Freunde der Nacht: Gespenster im Bus, Drachen, Schrecken in Hotelzimmern, alltägliche Ärgernisse über DJs bzw. schlechte Musiker und Philosophisches über die unfertige Welt. Sein vorgetragener Drehbuchentwurf über den Exorzisten scheint mir aber doch noch ein wenig überarbeitungswürdig zu sein, so wird das noch nix mit dem Film. Ein schrecklich schönes Programm, gespenstisch gut und monstermäßig vorgetragen.

    Gebt doch dem Mann am Klavier mal ’n Bier, denn Rainer Bielfeldt hat es sich redlich verdient. Seit Jahren unermüdlich musikalisch tätig, produzierend, komponierend, singend und begleitend, in seiner freundlichen und kompetenten Art für viele Sänger ein idealer Begleiter. Mit dem Hamburger Sänger und Stand-up-Comedian Ole Lehmann, nicht gerade ein Spezialist für filigranen Humor, macht er einen Mix von Liedern und Comedy: So what!? Reloaded (Bielfeldt-Records BLR 311; 12 Tracks, 70:12 min, live). Drei große Spaßnummern von Ole Lehmann über seine Schilddrüsenunterfunktion, Zugschaffner und Dialekte wechseln sich ab mit Liedern. Die Texte von Otto Senn hat Bielfeldt vertont, ebenso wie den Klassiker der Szene: Wir zwei sind ein Paar (Text: Edith Jeske), den beide Herren im Duett singen. Ein heiteres bis albernes Programm, die Szene juchzt, vielleicht doch lieber ein Gläschen Champagner für den Pianisten.

    1991 startete im Hamburg der junge Tim Fischer seine Chansonkarriere mit dem Programm: Zarah ohne Kleid (Sony/BMG 88697306082; 20 Tracks, 68:07 min, ausführliches Booklet mit Infos). Am Klavier damals wie heute, richtig, Rainer Bielfeldt. Im Hamburger Schmidt-Theater sind beide in diesem Jahr wieder mit den Nummern von damals aufgetreten. Ein netter Gedanke! Neben den Leandertiteln werden auch Lieder der Vita und der Caven gesungen oder Texte von Edith Jeske (Rinnsteinprinzessin, Wir zwei sind ein Paar). Inzwischen ist Tim Fischer fast doppelt so alt wie damals, seine Stimme ist gereifter und sein Vortrag professioneller, auch etwas exaltierter geworden. Aber es ist sein großer Verdienst, dem Chanson seinerzeit eine neue, breite Tür geöffnet zu haben, durch die heute wieder viele andere gehen können. Gerade von diesem legendären Debüt gab es bislang keine Aufnahme, diese Lücke im Plattenschrank ist jetzt endlich, auf neue Art, geschlossen worden.

    2008-09-15 | Nr. 60 |





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