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    „HARTZInfarkt – ein Scheißspiel“ im Kabarett Kartoon

    Das Taxi hält vor einem riesigen Glaspalast in einer leeren Straße. An der einzigen Tür, hinter der warmes Licht brennt, klebt ein Pappschild mit einem Umleitungspfeil zum „Atrium“. Das Atrium ist eine Art gigantischer Shopping-Mall, doch die Ladenparzellen sind jetzt dunkel und die Glastüren verschlossen. Irgendwo dazwischen liegt der Eingang des Kartoon. Das Traditionskabarett aus Ostberliner Zeiten ist hierhin umgezogen, in die Nähe des Checkpoint Charlie. Ein bisschen alte Zeit ist aber zum Glück noch, Programmhefte sind „leider gerade aus“. Als alle da sind, öffnet sich die Tür zum Theatersaal. So sieht ein modernes Kabarett-Theater aus: Man setzt sich auf komfortable Stühle, wie es sie in den Wohnmärkten auf der grünen Wiese gibt, freundlich und ergonomisch geformt. Auch der helle Nadelfilzteppich, die indirekte Beleuchtung, die zweckmäßige, universell einsetzbare Kulisse auf der offenen Bühne: Das ganze Ambiente wirkt vor allem – optimiert. Ein betriebswirtschaftlich durchkalkulierter Abend, Kabarett als rationalisiertes Endprodukt. Ein „Event“. „HARTZInfarkt – ein Scheißspiel“ heißt das Stück, das das Ensemble des Hauses heute spielt, geschrieben von dem erfahrenen ostdeutschen Satiriker Mathias Wedel und Regisseur Peter Tepper. Dann geht auch schon das Licht aus und zu den Klängen von „Schwanensee“ kommt eine Frau in einem gelben Entchen-Tutu und passendem Entenhelm auf die Bühne getänzelt. „Meinen Sie, ich mache mich hier freiwillig zum Löffel?“ fragt sie, als das Publikum verhalten lacht. Es folgt ein Schwung von Nummern, lose in eine Rahmenhandlung gepackt, im Mittelpunkt steht immer die Medienschelte. Die lokale Boulevardzeitung „B. Z.“ und die „Bild“ sind zuerst dran, sie haben schließlich Schuld, dass die Republik verdummt und sich die Leute mehr für Prinzessin Stefanies Hintern als für die eigenen schwindenden Chancen auf Wohlstand und soziale Sicherheit interessieren. Die vielen Pointen auf Kosten der Springer-Presse hat an diesem Ort eine gewisse Brisanz, weil wir uns in der „Springer-Passage“ befinden. Der Glaspalast, die verlassene Shopping-Mall, das gehört alles zu einer riesigen Überbauung im traditionellen Berliner Zeitungsviertel an der Kochstraße, wo früher das Springer-Hochhaus stand. In den Etagen über dem Kabaret Kartoon werden die Zeitungen dieses Verlags produziert.

    Medienkritisch geht es dann weiter, Sabine Christiansen bekommt ebenso ihren Anteil ab wie die modernen Spielshows, wie Jauch und Gottschalk. Halbherzig – und leider in völliger Unkenntnis der dortigen Verhältnisse – wird auch noch die alternative Tageszeitung „taz“ abgehandelt; die Redaktion des Blattes sitzt in direkter Nachbarschaft.

    Der Funke springt an diesem Abend nicht richtig über, obwohl viel gelacht, manchmal sogar gebrüllt wird. Aber es klingt darin nie Erschrecken an, weil man vielleicht über etwas gekichert hat, von dem man gar nicht wusste, dass man es komisch finden kann. Es ist immer nur ein beifälliges Lachen, welches bloß quittiert, dass die Meinung des Publikums von den Kabarettisten richtig wiedergegeben wurde. An den Darstellern auf der Bühne kann es wohl nicht liegen, sie sind alle langjährig erprobte Kräfte, die ihre Pointen präzise setzen und ihr Handwerk verstehen, das auch den nötigen kabarettistischen Furor beinhaltet. Auch das Stück kann es nicht sein, es enthält wohlgesetzte Pointen, ist in Rhythmus und Dramaturgie stimmig. Vielleicht liegt es an der Gattung des klassischen politischen Kabaretts selbst? Daran, dass es diese indirekte, tiefgründige Form mit dem Tempo und der Direktheit, an die wir uns im Alltag gewöhnt haben, nicht mehr aufnehmen kann? Da helfen auch die mehrfach gereckten Mittelfinger nicht. Das ganze Instrumentarium wirkt zu lahm und schwerfällig, um Widerhaken zu hinterlassen. Deshalb bleibt am Schluss ein Gefühl, als ob vom politischen Kabarett nichts geblieben ist als ein Konsumprodukt für Event-Endverbraucher mit nostalgischem Anspruch. Die Realität, an denen es scheitert, das sind die neonkalten Flure des Einkaufszentrums außerhalb des Kartoon, die man überqueren muss, um zur makellosen Klo-Oase zu kommen. Das ist der jungdynamische Anzugträger, der am Kartentresen in sein millimeterdünnes Notebook tippt, wenn er alle Karten ausgehändigt hat. Die Realität, das sind die Umleitungspfeile aus Pappe, die einen am Schluss des Theaterabends durch den Hinterausgang an der Tiefgarage vorbei in die windige Nacht hinausführen, weil der gläserne Haupteingang gerade umgebaut, umdekoriert oder sonst irgendwie mit schwerem Gerät bearbeitet wird. Von Arbeitskräften in Nachtschicht, am Freitagabend. Hat eigentlich mal jemand gefragt, wie viel sie dabei verdienen?

      Redaktion: Susann Sitzler

    2005-03-15 | Nr. 46 | Weitere Artikel von: Susann Sitzler





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