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    In der Manege… (…muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…)

    L’Année du cirque in Frankreich ist beendet und man zieht Bilanz, jongliert mit Zahlen dass einem schwindelig wird. Knapp über 2 Mio. Euro flossen 2002 an 35 Kompanien, dazu noch 0 .6 Mio. Euro für 32 Kreationen und es gab noch weitere Töpfe. Dennoch fühlten viele sich ausgeschlossen, darunter Pioniere des Genres, die heute gebeten werden, sich alleine über Wasser zu halten. 150 Kompanien waren auf Tournee, darunter 50 die als traditionell eingestuft werden. Vorrang geniessen Talentförderung und eine Form der Lehre, die dem offenen, individualisierten Ausildungssystem des zeitgenössischen Tanzes nachempfunden ist. Im französischen Zirkus dominieren heute Akademien wie das CNAC in Chalons-en-Champagne, dortselbst wo jährlich im Juni das Festival Furies einen Überblick über die Szene vermittelt. Die ästhetische Linie des jospinistisch geführten Ministeriums gab eindeutig konzeptueller Recherche den Vorzug gegenüber Traditionspflege. Das ist trendy da, wie wir sehen werden, moderner Zirkus selbst mit zeitgenössischer Kunst auf Tuchfühlung geht. Auch Kompanien, die « Tradition neu erfinden, » stehen hoch im Kurs, z.B. der intime, familiäre, swingende Cirque tsigane von Alexandre Romanes, einem Bouglione-Dissidenten. Was aber laut Ministerium von der Vitalität des Zirkus zeugt, das sind die florierenden Soli, Duos oder Trios, anders gesagt, die moderne Zirkus-Kleinkunst. Ein klarer Widerspruch zu aktuellen Erfahrungen des traditionellen Zirkus, der sich von seiner historischen Krise der 1970/80er Jahre erholt und künstlerisch erneuert hat, der heute besser geführt wird und interne Streitereien beigelegt hat. Vielleicht strahlt auch der Erfolg des nouveau cirque auf die alt eingesessenen Familienunternehmen aus. Laut Gilbert Edelstein, dem Direktor des Cirque Pinder, sehen heute neun von zehn Zuschauern Spektakel dieser Kategorie.  

    Für alle Katgorien gilt die Charta für die Beherbergung von Zirkuskompanien. Sie zeigt, wie sich durch den Regierungswechsel in Frankreich der Wind gedreht hat. Es wird erwartet dass 70-80 Gemeinden sich verpflichten, die Artisten unter würdigen Bedingungen zu empfangen. Die neue konservativ-populistische Regierung, die die Zirkus-Charta erbte, erliess nun ein Gesetz, nach dem die Autos von Gruppen, die ohne Erlaubnis auf Grundstücken wohnen (« Zigeuner ! ») einfach konfisziert werden können. Das sog. « fahrende Volk » sollte von nun an besser die Keulen auspacken, wenn die Polizei anrückt. Zum Jonglieren natürlich.  

    Dank des Zirkusjahres zogen die Schule von Annie Fratellini und die Ecole nationale des arts du cirque in Rosny-sous-Bois in neue, komfortablere Stätten und mehrere Studien über die wirtschaftlichen Bedingungen der Artisten und ihre Stellung in der Gesellschaft wurden in Arbeit gegeben.  

    Im letzten Jahr gaben sich auf Furies die Licedei (Trottoir 36), Gosh, die Choreografin Christine Bastin die sich für « Vu d’en haut » an Seil und Tuch in die Vogelperspektive windet, die Ecole Supérieure des Arts du Cirque aus Brüssel (ESAC) und viele Andere die Hand. Goshs « Poignée de femmes », eine Handvoll Frauen also, bringt Zirkus der über sich selbst lacht mit drei Akrobatinnen, die selbst Artistinnen spielen, und zwar die gealterten Flying Sisters.  Lange sehen wir statt einer Vorstellung die Proben zu derselben und sind verblüfft, zuzuhören wie Christine Ritter, Sabine Rieck und Kathryn Mlynek am Seil und im Spagat das Beziehungsgeflecht der « Flying Sisters » als Psychokomödie aufarbeiten. Das französische Publikum war von dieser raffinierten Mischung aus Artistik und Boulevard-Theater völlig verblüfft und tief gerührt. Ganz ernst bleibt dagegen der junge Jani Nuutinen aus Finnland, der das CNAC absolvierte und mit einem Solostück als Circo Aereo in die Nostalgie einer alten Dachkammer abtaucht. Er jongliert, spielt Akkordeon und setzt kleine Maschinen aus Draht in Gang, die Bälle transportieren. Dieser Metazirkus ist typisch für aktuelle Strömungen aus dem Tanz, die auch die Manegen vereinnahmt haben. Hier werden die Künste oft nicht mehr gelebt, sondern nur noch zitiert. Gerade in Soli ist oft mehr Kopf im Spiel als Bein und Bauch. Dabei schliesst Konzeptarbeit nicht aus, dass auf der Bühne richtig gewirbelt wird, wie auf Furies die Absolventen 2002 der ESAC auf hohem Niveau bewiesen. Zum Beispiel Caspar Sylwan aus Schweden, der sich als nordischer Troll nur ganz langsam aus seiner Holzkiste traut. Bodenakrobatik lässt sich leicht in solch eine Figur fügen, aber Jonglage ? Er schafft es, virtuos ! Mit schrillen Tierlauten, Humor und viel Persönlichkeit erobert er das Publikum auf die sanfte Tour. Ebenso spannend war der surrealistische, extrovertierte Slapstick eines Akrobatenduos auf dem Sofa, Anouk Bertin und Lutz Christian. Ein Paar von heute glotzt TV, zwischen Traum und Trauma. Klassischer, aber virtuos in Jonglage, Bodenakrobatik, Tanz und Kostümdesign war Natalya Kryvonos aus der Ukraine. Belgiens wallonische Szene ist ein unerschöpflicher Schmelztiegel für Talente aus aller Welt, im Tanz ebenso wie im Zirkus.  

    Während die Avantgarde in immer neue Dimensionen vorstösst, spürt sie dann und wann den Atem einer Bestie im Nacken, denn die alte Garde galoppiert auf ihren Spuren. Der Begriff « traditioneller Zirkus » verliert langsam seinen Sinn. Auch hier wird thematisch gearbeitet und manchmal werden Kategorien konsequenter aufgebrochen als bei den Neuerern. Was in der Wirtschaft funktionierte, wo die old economy sich die new economy einverleibt, mag bald auch dem Zirkus widerfahren. Besonders deutlich zeigt sich das Paradox am Status der Tiere. Wo dem Vernehmen nach eine Vereinbarung der österreichischen Bundesländer die Mitwirkung von Wildtieren an Zirkusschauen ab 2005 untersagen soll, wo dieselbe in Salzburg und Wien  bereits umgesetzt sein soll, wird in Frankreich, dem Vorreiter der Verbannung der Tiere aus den Manegen (eines der Markenzeichen des nouveau cirque), das Mitwirken derselben wieder hoffähig, wie bei Buren Cirque (s.u.).  

    Man sehe sich nur die neue Generation Bouglione an, mit « Megalopolis », einer globalisierten www-Fassung des Erlebnis Zirkus, mit Tigern und Kamelen, aber auch einem schwarzen Rapper (sic !, denn die Pferde sind hier Schimmel, so hell wie Edelweiss) namens Dhouma Le Parrain aus der Banlieue von Paris, Videokunst aus dem Stall von José Montalvo, das ganze inszeniert von der Brasilianerin Neusa Thomasi deren Familie wiederum italienischer Abstammung ist. In der Truppe dann eine Jongleurin aus Österreich, zwei Bougliones der neuen Generation (Sandrine und André Bouglione) und akrobatische Clowns aus Griechenland, Spanien und Irland und sogar Frankreich, die sich jonglierend an Hip-Hop-Tanz heran wagen und dabei gar nicht schlecht aussehen.  In dieser explosiven Mixtur zelebrieren sie « die Begegnung von Zirkus und engagiertem Theater », in einer Megalopolis, die stark von Fritz Lang inspiriert ist und daher auch viele Stummfilmbilder enthält. In diesem Kollektiv sind die fünf gigantischen Tiger weder kastriert noch beschnitten, gehen mitunter die Hengste aufeinanander los… Artgerechtes Halten und Verhalten ? Alter oder neuer Zirkus ? Die Inszenierung spielt mit der natürlichen Präsenz der Bestien, die gerade in einer Art Naturzustand ihre Eleganz am besten zur Schau stellen. Dass sie später auch noch durch den Feuerreifen springen, ist einem danach beinahe egal. Widerstand gegen die Vereinnahmung durch die totale Maschine aus Arbeit, Geld und Macht ist das Thema von « Megalopolis » das auch Graffs von einem der führenden Sprayer-Kollektive enthält. Aus der jungen Riege der Artisten ragt neben Sandrine Bouglione auch der spanische Seiltänzer, Clown und Jongleur Lorenzo Silva heraus. Das ist Zirkus im global Village der Kunstsparten, wo nicht nur räumlich, sondern auch zwischen den Epochen und den Denkweisen alle Grenzen fallen.  

    Die Verbrüderung zwischen Old-School-Zirkus und Hip-Hop-Kultur ist ebenso natürlich wie jene zwischen New-School-Zirkus und moderner Kunst. Schon in den 1920/30er Jahren knüpften Artistik und Manege enge Bande mit Avntgardisten wie Oskar Schlemmer, dem Maler Fernand Léger, den Dadaisten, Laszlo Maholny-Nagy und Anderen. Aktuell findet Daniel Buren unter einer blauen Kunststoffkuppel die Freiheit, seine Konzepte zur destablisierenden Wirkung von Farbe in situ anzuwenden, unbeleckt von dem Etikett des staatstragenden Designkünstlers. Farbige Paravents verstellen die Sicht auf weisses Pferd und schwarze Tänzerin. Buren irritert den Blick des Zuschauers, der nach oben in die Spiegel schauen muss, um die Musiker im inneren eines senkrecht gestreiften Zylinders zu sehen. « Buren Cirque » heisst das von Dan Demuynck mit Artisten, Pferden, Ziegen,Voltigeuren, Jongleuren, Tänzern, Klowns und Musikern ausgestattete Programm.Wenn Demuynck Nummern auf einen seidenen Kern reduziert, dann gewinnt die Artistik zusätzlich an Präsenz. Ein anderes Beispiel ist Le Cirque du Tambour, eine Verbindung aus Artistik, Poesie von Gherasim Luca und zeitgenössischer Musik, entwickelt am IRCAM, einem Pariser Musikzentrum, das nach elektronischen Klangwelten forscht. Roland Auzet inszenierte schon zwei Versionen des Cirque du Tambour die er um seine eigenen IRCAM-Kompositionen inszenierte. Selbst Zingaro integriert Pferdeskulpturen in seinem neuesten Werk, „Triptyk.“ Die Liste wäre lang, und sie endete unweigerlich bei drei Schweizern, Metzger/Zimmermann/de Perrot, der perfekten Fusion der Genres, die ihre Existenz selbst als circensisches Kunstwerk zelebriert. Nach ihrem Erstlings-Blockbuster „Gopf“ haben sie nun einen zweiten geniestreich gelandet – „Hoi.“ Drei urschweizer Kreaturen nutzen eine Bretterbühne, die anfangs noch still wie ein Bergsee daliegt, um Berge, Hütten, Forst und Furcht entstehen zu lassen. Abwechselnd tauchen sie aus der Unterwelt auf. (a) Gregor Metzger, einst Solist bei Béjart, (b) Martin Zimmermann der das CNAC absolvierte und Josef Nadjs Welterfolg „Le Cri du Caméléon“ mit der Kompanie Anomalie kreierte und (c) Dimitri de Perrot, Musiker am turntable aus dem underground von Zürich, Hamburg und London. Unmöglich, dieses Künstlerkollektiv (www.mzdp.ch) und sein „Hoi“ noch einer Kategorie zuzuschreiben. Artisten, Mimen, Clowns und Performer, sie sind alles in einem. Und ihre Bühne ist ein Bauhaus. Die sechs Plattenspieler de Perrots stehen senkrecht und spielen trotzdem. Wenn das nicht Artistik ist…

    Zum Schluss noch eine kuriose Miniatur, der „Holzzirkus“ aus Prag mit den Marionetten der Kompanie Karromato. Reiterin, Dompteur, Jongleur undAkrobaten, fast wie in der echten Manege, nur leichter schwebend, freier in der Eroberung der Lüfte, aber voller Ironie, die sie immer wieder auf den Boden zurück wirft. Karromato zeigen die Nummern so, wie sie der wirkliche Zirkus nur suggerieren kann. Tradition muss kreativ bleiben, sagen die drei Puppenspieler aus Prag, Ungarn und Spanien und verbinden hier die Traditionen von Marionettenbühne und Zirkus mit ironisch überhöhten Akzenten von Folklore. Alles in allem zeigt sich, dass der Zirkus heute alle Freiheiten besitzt, sich mit allen Kunstsparten verbinden kann und dass alle, aber auch wirklich alle Experimente erlaubt sind. Ausser in Österreich….

    Redaktion: Thomas Hahn

    2003-03-15 | Nr. 38 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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