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    Wo Männer Männchen machen....

    Wie bringt man ein halbes Dutzend Rechtsanwälte, Redakteure und andere seriös gestimmte Herren dazu, sich öffentlich halbnackt auszuziehen und bis auf die Knochen zu blamieren? Und das auch selbst noch amüsant zu finden? Ganz einfach: man nehme sie mit zu einer Show von Shirley Sunflower und sorge dafür, dass sie in einer Bühnen-günstigen Position stehen. Sollte der Betreffende erst einen gelben Eimer auf dem Kopf haben, ist der Abend garantiert gerettet. Aus Australien kommt sie, wurde in einer kalifornischen Clownsschule ausgebildet und hat mittlerweile Europa ziemlich vollständig erobert. Wie sie ihre Opfer behutsam, aber unerbittlich zum Ausziehen des Hemdes bewegt, sie zum Hüftschwung überlistet und ihnen auf dem Kopf herumturnt, ist einzigartig. Sie lässt die Männer Männchen machen - und hält doch souverän die Balance, dass es nicht peinlich wird. Beim Kleinen Fest im Großen Garten, dem alljährlichen Freiluft-Mini-Kleinkunst-Festival in Hannovers Barockgarten, erwies sich die unverfrorene Clownin als Überraschungshit. Genauso ein Hit, aber ein erwarteter, war das Musik-Duo Hinz und Kunz: Von Schlagern wie „Die kleine Kneipe„ bis zu Rockklassikern spulten sie gekonnt ihren Medley auf Gitarre und Geige ab, hacken auf einander und auf ihre Instrumente ein und krönten das Ganze mit einem sehr witzigen Parkplatz. Was sie mit ihrem grandiosen Auftritt bei der Kleinkunst-Börse versprachen, haben sie auch hier mehr als eingelöst. Ansonsten war viel Bewährtes zu sehen, wie das Duo Naseweis mit Kändler'scher Sprachverwirrung und einer klasse Raumschiff-Enterprise-Persiflage, Jeff Hess mit seinen abgedrehten Einrad-Entfesselungen, Hannovers Comedyzauberer Desimo mit einer Mitspielshow-Satire, oder die poetischen Marionetten der Holzköpfe. Für Flair sorgten wieder Walk-acts wie zwei wandelnde Statuen vom Kleinen Atelier alias Bernd und Erika Hillringhaus, malerisch ganz in grün oder weiß, mimisch wie atmosphärisch stimmig. Sowie der nimmermüde Frans, der diesmal sein 10-mal-Kleines-Fest-Jubiläum feierte. Der darf immer dabei sein; Bühnenkünstler wie Herr Schulze und Herr Schröder, so trefflich sie auch in den Garten passen, kriegen dagegen wegen Verschleißvermeidung von Zeit zu Zeit Zwangspause. Das schon zeigt: Der Kreis der in Frage kommenden Künstler bleibt begrenzt.

    Gibt's nicht vielleicht daheim sogar Besseres als all die Importe? Hannovers Böse Schwestern machten sich auf die Materialsichtung und luden auf ihrer Kleinkunst-Bühne Marlene Niedersachsen-weit zum Wettbewerb: „Die Goldene Rübe„ galt's zu gewinnen. Das Publikum traf in zwei Runden die Vorauswahl, eine Jury sichtete die verbleibenden sechs Acts und traf auf nicht allzuviel Aufregendes. Dirk Langner blieb als seefahrender Nagelfritz irgendwo auf halbem Weg zur Ironie stecken; Mark Seebürger zeigte als Jean Tatü eine etwas lahme Fernseh-Satire; und nur die Male Babes sahnten als Nicht-Preisgekrönte so etwas wie den heimlichen Publikumspreis ab: Ihre neuen Texte zu bekannten Chansons zeigen amüsante Schräglage, die musikalische Darbietung sitzt. Aus denen könnte auch außerhalb ihrer Heimat Göttingen was werden, wenn man sie pflegt. Einzige relativ Unbekannte unter den Preisträgern war Dorte Winther Hansen alias „Dagny Dienesen„, die für ihre stimmige Rollendarstellung den dritten Platz zugesprochen bekam. In absolut absurden Punktkleidern mimt sie die Dozentin einer Showschule - die Kostüme hätten eigentlich einen Sonderpreis für Mut zur Hässlichkeit verdient. Zweiter Sieger wurde Niels, der zwischen zwei Auftritten im GOP Hannover an dem Abend eben mal eine gekonnte Pantomime-Nummer hinlegte. Vielleicht aber wegen des Auftrittsstresses ein bisschen schwach in der B-Note, für die künstlerische Innovation, wo die Pantomime allerdings traditionell ohnehin ein Problem hat.

    Doch Gewinner des ersten Preises, der Goldenen Rübe, schmetterten eh' alle anderen an die Wand: Marianne Iser und Thomas Duda errangen mit ihren einzigartigen düster-romantischen und schwarzhumorigen Chansons die Gunst von Jury und Publikum. Das Duo brachte im Frühsommer außerdem in Hannover sein neues Programm heraus und zeigte, was es heißt, den eingeschlagenen Weg konsequent weiter zu verfolgen. „It's my Party!" ist der Titel, was sich bei Iser fortsetzt mit: „Und ich weine, wann ich will!" Ganz in schwarz steht sie im ersten Teil auf der Bühne, distanziert und geheimnisvoll, doch sie singt mit einer Leidenschaft, die aus den tiefsten Abgründen der Gefühle kommt. Noch radikaler als die ersten drei kostet das neue Programm das Spiel mit dem Verhängnis der Liebe aus und zerrt ins Scheinwerferlicht, „was du aus dir verbannt hast": den Schmerz, die Wut, den „Sonnenuntergang am frühen Morgen". Sanft schmeichelnd schwärmt ihre Stimme „den Tod an ihrer Seite„ an, schmäht in schrillen Koloraturen den verflossenen Liebhaber und konfrontiert das Publikum mit direkten Blicken aus ihren exzentrisch groß geschminkten Augen: „Lässt du aus Angst vorm Tod das Leben sein?„ Die Party von Iser und Duda spielt jenseits dieser Angst, in einem Raum, in dem (fast) alles erlaubt ist. So schweben sie im zweiten Teil mit Engelsflügelchen herein. Ihr Humor aber bleibt so schwarz wie ihre Tragik. Ein außergewöhnliches Programm, das die künstlerische Reife des mittlerweile mehrfach preisgekrönten Duos zeigt (05.11. Hameln-DeWeZet, 08.-10.11.01 Wiesbaden-Thalhaus, 28.11. Bad Vilbel-Alte Mühle).

    Wer noch ein bisschen nachwüchsiger ist, dem sei in Hannover die Werkstatt Galerie Calenberg ans Herz gelegt. Alljährlich startet dort im Frühjahr die gemischte Reihe der Calenberger Kabarettwochen mit einer offenen Bühne für alle am Tag des Kabarasching. In schlechter Gesellschaft befindet man sich dennoch nicht: Auf Wolfgang Werners intimer Bühne (www.wgc-theater.de) gastieren durchaus auch versierte Kabarettköpfe wie, ziemlich erfolgreich und ziemlich regelmäßig, der hochcharmante Klavier-Bluesplauderer Arnim Töpel. Übrigens taten auch heute bekannte Größen wie Rüdiger Hoffmann, damals frisch aus Paderborn kommend, hier ihre ersten Schritte in eine größere Öffentlichkeit, auch Ingo Appelt schlachtete hier noch 1995 blutig und bissig den Kanzler, bevor er sich auf das Gebiet unterhalb der Gürtellinie zurückzog. Einer, der sich in letzter Zeit in der Calenberger Galerie für weiteres empfahl, ist der junge Bielefelder Ingo Börchers, der mit seinem neuen Programm „newsspeak„ als eine der Entdeckungen des letzten Winters gilt. Deshalb hat er's diesmal auch ins Programm der Mimuse geschafft. Die allerdings droht mit ihrer Ausdehnung über Wochen langsam ihr Profil als das Comedy-Festival in Norddeutschland zu verlieren. Kein Abschlussknaller, wenig Galas - von den Langenhagener Herbstprogrammen früherer Jahre ist die Mimuse, wenn sie sich so weiter entwickelt, kaum mehr zu unterscheiden. Auch wenn wir uns natürlich alle auf Andrea Badey, das 3Gestirn, Mark Britton, Christoph Sieber, Lars Reichow, Pe Werner, Götz Alsmann, Buschtrommel, Bodo Wartke und noch viele andere sehr freuen: Über den neuen Verlauf (siehe www.mimuse.de) sollte Organisator Püschel vielleicht doch noch einmal nachdenken.

    Bleibt nur noch zu vermelden, dass Hannover das ultimative Programm für alle hat, die von der Comedy-Inflation endgültig genug haben und mal wieder ein paar richtig rotfaust-feste Agitpropmärsche hören möchten. Karin Kettling von der Hebebühne ist ein wahrhaft einzigartiges Programm gelungen, eine amüsante Archäologie des revolutionären Geistes. Doppelbödig, unterhaltsam kritisch, fantasiereich präsentiert die Sängerin mit Holger Kierleis' Klavierbegleitung ihre Bilanz einer Zeit, über die man vielleicht doch noch mal nachdenken muss. Überhaupt holt die Künstlergruppe wieder zu schönen neuen Unternehmungen aus und hat Ende Oktober Premiere mit „Zwischen Wanne und WC. Ein Abend in der Nasszelle." Fröhliches Badengehen wünscht

    Redaktion: Evelyn Beyer

    2001-09-15 | Nr. 32 | Weitere Artikel von: Evelyn Beyer





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