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    Erste Vorboten einer heißen Saison


    Nach den ersten zwei groszen Festivals in Frankreich zeigt sich deutlich frischer Wind im Vergleich zur letzten Saison, aber auch dasz immer mehr Kompanien fleiszig mit Text arbeiten. Der politische, zeitkritische Gehalt der Auffuehrungen waechst wieder, die Aktionsfelder erweitern sich. Besonders viele Kompanien spielen mit der Realitaet, indem sie glaubhafte Imitationen mit ironisch ueberzeichneten, satirischen Elementen ueberlagern.

    Da erfinden Groupe Ici-même eine fiktive Agentur namens Opaque, die neues Stadtmobiliar testet und per Umfrage die Reaktion der Buerger erforscht. Zum Beispiel zu einer kostenlosen oeffentlichen Dusche in der Telefonzelle oder einem zur Picknick-Station umgebauten Muellcontainer und anderem innovativen Geraet, alle gratis zu benutzen und voll funktionstuechtig installiert, dazu taeglich gewartet. Ueberlaßt die Konzeption unseres staedtischen Lebensraumes nicht den Profi(t)-Agenturen, lautet die implizite Botschaft.

    Die Kompanie Lackaal-Dukrick « spielt » im Kaufhaus wo sie die Haushaltshilfen der Zukunft vorstellt. Lebensechte Roboter, installiert in Arbeitsnischen oder als menschelndes Badezimmer mit Beauty-Beratung. Kuechenroboter, Gaertner, Heimwerker, Butler und Gaertnerin sind im Programm. Eine Persiflage auf Technikglaeubigkeit, die nach den Traeumen der fuenfziger Jahre riecht als dier Kuechenmixer das Glueck verhiesz. Die Menschmaschinen von Lackaal-Dukrick versprechen nun dank Internet-Anschlusz den Zugang zum Universalwissen und das Ende aller Muehen. Bestechend sind die mimischen Faehigkeiten der Roboter-Schauspieler und der mehr als professionelle, mehr als realistische  Auftritt der Verkaeufer. Die stecken alle echten Warenanpreiser in die Tasche.

    Ici-même die sich als « urbane Szenografen «  bezeichnen haben ihre  Installationen in Sotteville zusammengeschweiszt waehrend die Kaufhausaktion unter anderm von Chalon-sur-Saone coproduziert wurde.

    Natuerlich gibt es auch Kompanien die ohne Worte tolle Kunst bieten, und das sind nicht nur die Taenzer aus Barcelona und Frankreich ueber die ich in einem spaeteren Heft berichten werde.

    Traumhaft war der Auftritt von Kabaal mit « La Ballade K » in Chalon. Eine Gruppe von Jongleuren, die auf einem hoelzernen Wolkenschiff in Art-Deco-Ambiente auf einer Verkehrsader einschwebt, ploetzlich Halt macht. Aus Musik – das Schiff enthaelt sogar ein Piano – und Jonglage entsteht mal eine Hafenbar, mal ein Buero oder eine Fabrik. Die Personen sind meistens Matrosen und gleichzeitig Emigranten aus einer Art Balkankultur. Blecheimer, Kasserollen, Koffer und andere Utensilien werden in mechanische Jonglage einbezogen. Die Schauspielerische Leistung ist so suggestiv dasz jonglieren als eine natuerliche Ausdrucksweise dieser Migranten erscheint, die den Platz der Sprache eingenommen hat. Galeere oder Goetterschiff ? Man spuert die starke Gemeinschaft der Personen in jeder Szene. Keine Parade sondern ein echtes Kunstwerk  fuer die Strasze das auszerdem fuer mehr als 600 Zuschauer bequem einzusehen ist.

    Wer steckt nur in den wallenden Schaumstoffkosuemen der drei Damen in gepunkteten Badeanzuegen mit Sonnenbrille und Handtasche, die an diversen Straszenkreuzungen Aufsehen erregen und beinahe Chaos stiften ? Sind die Drei eher auf der Suche nach Freiern, Lovern oder dem Strand ? Jedenfalls halten sie Passanten und Autos an, versuchen anzubaendeln und zu unbegleiteten Autofahrern zuzusteigen. Doch sind sie viel zu voluminoes um sich wirklich auf dem Beifahrersitz einzunisten. Wunderbar ist, dasz sie ueberraschend, unangekuendigt auftauchen und ihr Geheimnis niemals lueften. Niki nenen sie sich laut einer Postkarte, aber das ist alles was man erfaehrt. Eine Ries(inn)en-Entdeckung.

    Sotteville erlebte eine theatralische Parade als Zusammenarbeit der Australia Black Dance Company und « les Plasticiens volants ». Politisch korrekt, da den Aborigines gewidmet, aber dennoch unterhaltsam ging es tanzend mit einer riesigen aufblasbaren Schlange ueber allen Koepfen durch die Straszen.  Erzaehlt wird eine Legende der Aborigines von der Enstehung der Welt. Mehrmals haelt der Zug an Orten wo auf Geruesten und Plattformen Tanztheater geboten wird oder weitere aufblasbare Tiere und Landschaften entstehen. Die Inszenierung heiszt « Ngalyod » bietet Spasz, Trickeffekte und eine Parade an der das Publikum weit aktiver als sonst teilnimmt.

    Enttaeuschend ist die Kreation « www.sandman.com » von The Lunatics aus Holland. Die drei Gesellen, die auf ihren Mondautos oder per Motorrad umhersausen koennen schauspielerisch den Aufwand der Inszenierung nicht rechtfertigen, auch wenn ihr Slapstick ganz gut funktioniert. Mit ihren riesigen Parabolantennen emfangen sie Musiken verschiedener Kontinente und fahren schlieszlich auf Rock’n’roll ab. Statt der versprochenen Traeume und Poesie gibt es eine Comedy-Show mit einer Spezies die man ihren Kostuemen nach als Kreuzung von Kaefern und Astronauten einordnen musz und die statt Spache nur Grunzlaute hervorbringen, dafuer aber Hi-Tech beherrschen. Sieht so unsere Zukunft aus ?

    Die Compagnie d’Ailleurs (Frankreich/Uruguay) bietet mit « Souvenirs d’ailleurs » ebenso ueberzeugende Poetik auf einer Reise durch Zeit und Raum  wie Kabbale. Drei Stelzenlaeufer ziehen einen alten, rostigen Wagen der eine Art Chemielabor enthaelt. Viel Draht, Leder, ein Hoerrohr und Weihrauch.  Ihre Kostueme sind verblichen, ihre Silhouetten so langgezogen wie Skulpturen von Giacometti, in ihren Masken kreuzen sich Puppentheater und Pierrot. Was wie ein Maerchen in pastell anmutet, mag eher ein Akt alchimistischer Prokreation sein in Wanderromantik zwischen Himmel und Hoelle. Die Liebe zum Detail und die Sorgfalt, mit der die Figuren einander begegnen zeichnet die gesamte Produktion aus.

    In einem ganz anderen, musikalischen Genre bewegt sich « Au milieu des choses », die in Sotteville ein reales Bierzelt zeitweise in eine Percussion-Basis verwandelten. Tresen, Spuelbecken etc, wurden zur Schlagflaeche, auch mit Schlauch oder Handtuch laszt sich elektroakustisch Klang erzeugen. Die verwirrende Improvisation wird live auf einen Groszbildschirm projiziert. Gleizeitig also visuelle Kunst, von der bestechenden musikalischen Qualitaet und Klangvielfalt ganz zu schweigen. Und zwei Minuten nach dem letzten Sound floss wieder Bier aus dem Zapfhahn. So kuendigt sich im Straszentheater eine Saison voller Entdeckungen an.

    Redaktion: Thomas Hahn

    2000-09-15 | Nr. 28 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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