Nun ist es eine traurige Tatsache: Deutschland hat sein ältestes und vorübergehend einziges Varieté verloren; das Hansa-Theater ist und bleibt (vorerst) geschlossen. Am 1. Januar öffnete sich nicht das Rollgitter am Steindamm 17 in Hamburgs Problemviertel St. Georg, keine Artistencampings stehen mehr auf dem nach wie vor nutzbaren Parkplatz an der Bremer Reihe.
Bis zuletzt hatte das Hansa artistisch hochwertige Varietékunst geboten, so wie Theater-Chefin Telse Grell im Juni den Freunden des Hauses (und es gab viele Solidaritäts- und Betroffenheitsbriefe!) versprochen hatte, den „Stammgästen bis zum letzten Spieltag mit ausgesuchtem Programm und sorgfältiger Präsentation für seine Treue (zu) danken“.
Für das Abschiedsprogramm war also noch einmal „aus dem Vollen geschöpft“ worden, auch wenn es mit Bike MagiX etwas zu „cool“ begann: Csaba und Szabolcs aus Ungarn, die früher zum ähnlichen Quartett Grind‘s gehörten, konnten mit ihren Tricks auf BMX-Rädern trotz des „lebenden Hindernisses“ keinen Kontakt zum Publikum aufbauen; vielleicht lag’s am Outfit mit pudellosen Pudelmützen und Sonnenbrillen, vielleicht an der Tonbandmusik? Erfrischender wurde es gleich danach mit Pierino, der sich als blaugelbes Nilpferd in die Stepptänzerin Olga verliebte. Auch in ihrer späteren Tango-Parodie bleiben der Schweizer Clown und die russische Tänzerin sich treu: farbenfrohe, musikalische, harmonische Szenen, genauso wie die beiden auch ihr Solo-Programm gestaltet haben, mit dem sie 2002 wieder in vielen Theatern und Kulturhäusern gastieren werden.
Zu absoluten Publikumsfavoriten im Abschiedsprogramm wurden zum einen die drei ghanaischen Tempo-Akrobaten Ndux Malax, dynamische Vertreter der, wie sie sich selbst kommentieren, „African Power“, und zum anderen Norman Barrett, dessen Wellensittiche artistisch topfit sind und die ihrem stimmgewaltigen Herrchen doch manchen Streich spielen. Circusfreunde wissen, dass Norman Barrett auf jahrzehntelange Erfahrung als Ringmaster vor allem im Blackpool Tower Circus zurückblicken kann. Zudem hat er sein Show-Talent auf Sohn Guy vererbt, der zusammen mit Sarah für die Illusionen im letzten Hansa-Programm sorgte: Große Requisiten, die von der Partnerin ein hohes Maß an kontorsionistischem Geschick verlangen, wechseln ab mit „kleineren“ und um so verblüffenderen Tücher- und ähnlichen Tricks. Von den vielen, vielen Zauberern, die zu den mehr als 25000 Hansa-Artisten zählten, sind sie sicher mit die besten.
Und das Hansa-Theater hat mehr als die anderen, neuen („modernen“) Varietés die circensische Artistik gepflegt; vor allem früher, als keine anderen Varietés und kaum deutsche Weihnachtscircusse winterliche Engagements boten, genossen viele Circusnummern hier einen gut geheizten Varietémonat. So wehte auch durch das Abschiedsprogramm eine gehörige Portion Circusluft, mit Luisa & Gheorghe Marinof aus Rumänien am Trapez (teilweise Zahnhang ohne Genickschlaufe), mit dem niederländischen Ball- und Reifenjongleur Freddy Kenton in klassischer Rastelli-Manier und mit Romana Schneller, die in ihren Antipodenspielen zunächst Michael Jackson (als Puppe natürlich ...) rotieren lässt, bevor sie virtuos und sicher Stern, bis zu vier Röhren und andere Requisiten herumwirbelt. Romanas Eltern betreiben in Österreich seit 1989 den Circus Pikard, die Nummer 3 jenes Landes nach Louis Knie und Elfi Althoff-Jacobi ... und Romanas ungarischer Ehemann Guti Balasz ist nicht nur ihr Assistent, sondern auch athletischer Strapaten-Künstler, wenngleich leider nicht im heute besprochenen Hansa-Programm. Hier wiederum begeisterte er als Baguti mit seinen tollen Leitercascaden auf und unter dem Trapez, wenn er mit wirklich witziger Ausstrahlung versucht, Romana und ihr Trapez zusammenzubringen. Dieses junge Paar verlässt übrigens nun den heimatlichen Circus Pikard und reist ab 23. Februar mit dem Schweizer Circus Medrano.
Kein Hansa-Programm ohne Live-Musik – die letzten elf Jahre spielte das Orchester unter der Leitung von Janusz Kusmierz (und wurde im Dezember leider all zu oft vom Tonband der Artisten verdrängt). Doch Live-Musik erklang auch immer wieder als eigenständiger Programmpunkt, zuletzt mit dem englisch-irischen Duo Andante, zwei Multi-Instrumentalisten auf Banjo und Blockflöten, auf Gitarren und am Keyboard, musikalisch sicher korrekt, doch ein wenig zu brav und bieder wirkend für einen spritzigen Varieté-Cocktail. Und zu einem Varieté gehört natürlich ein Humorist, ein Conférencier, wie er andernorts durch das gesamte Programm führt. Das Hansa-Konzept verzichtete zwar auf jegliche Ansagen (außer zum Finale), doch Komiker erhielten ihren eigenen Auftritt wie unlängst noch Mircea Krishan, teilweise witzig und originell, doch manchmal auch etwas platt (Aids- und Ausländer-Witz). Großartig jedoch seine vielen Variationen, die simple Botschaft „Mutter, ich geh!“ theatralisch umzusetzen!
Und unvermeidlich rückte der 31. Dezember näher und damit die total ausverkaufte 51188. Hansa-Vorstellung. Romana Schneller moderierte wie stets souverän das Finale, Mircea Krishan und ein kaum zu bremsender Norman Barrett sorgten mit ihrer Parodie auf die Ndux Malax für Extra-Lacher – doch dann wurde es ernst: Peter Baldermann, Hansa-Geschäftsführer und Schwiegersohn von Frau Telse Grell (die im Publikumseingang saß), betrat die Bühne und erläuterte noch einmal die Gründe für die Schließung („wir können schwer damit umgehen“), nämlich Zuschauerrückgang durch Drogenszene und Straßenstrich in unmittelbarer Hansa-Nachbarschaft und ein neues Einkommensteuergesetz, das dem Hansa-Theater die seit Mitte der 90-er Jahre praktizierte Selbstsubventionierung nicht mehr zugestand; das Hansa sei für das Finanzamt „ein Hobbybetrieb ohne Gewinnerzielungsabsicht!“ In bewegten Worten dankte Herr Baldermann anschließend vielen langjährigen Kräften im Büro (Pressechef Helmut Kalkowski, Frau Jögimar, die direkte Ansprechpartnerin der Künstler), auf der Bühne (Bühnenmeister Peter Denker), im Empfang (Fred Engelhardt), hinter den Kulissen, in Küche und Werkstatt. Hier wurde deutlich, dass Familie Grell-Baldermann sich auf einen Stamm vieler bewährter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen konnte. „Immer eine verläßliche Partnerin“ sagte Herr Baldermann auch über seine Frau Gisela, eine der drei Töchter von Frau Grell. Mit „Gott schütze Sie, Gott schütze Hamburg“ und fast versagender Stimme endete die ergreifende Rede; es flossen Tränen im Publikum, und auch viele der auf der Bühne verharrten Artisten hatten Mühe, die Fassung zu bewahren.
Auf Gitarre und Blockflöte intonierte das Duo Andante „Time to say goodbye“, und die Künstler verließen die Bühne und gingen durch den Zuschauerraum ins Foyer, wo sie sich von den emotional ebenso bewegten Gästen mit Rosen verabschiedeten – eine sympathische Geste des Hauses seinem Publikum gegenüber! Traurige Garderobieren überreichten letztmalig Mäntel und Taschen, Stammgäste dankten Frau Grell für viele wunderbare Varietéprogramme, und an allen Neujahrswünschen klebte ein bitterer Beigeschmack.
Und nun? Nun ist das Haus geschlossen, ganz einfach zu. Es wird nicht umgebaut, ja nicht einmal vermietet, schon gar nicht verkauft (weder das Haus noch der Name), kein Kino zieht ein, kein Supermarkt, sondern der Vergleich mit einer „Sommerpause, doch ohne Handwerker“ drängt sich auf – und damit bleibt uns ein bißchen die Hoffnung, dass irgendwann doch wieder Varieté-Künstler auf jene 107 Jahre alte Bühne zurückkehren. Wie hatte ein jugendlicher Hansa-Erstbesucher noch Anfang Dezember bei einer Meinungsumfrage unter Circusfreunden geschrieben? „Tolle Kombination aus Können und Tradition. Auf jeden Fall empfehlenswert und erhaltungswürdig!“
Redaktion: Achim Schlotfeldt
2002-03-15 | Nr. 34 | Weitere Artikel von: Achim Schlotfeldt