Was erwartet uns in der nächsten Saison? Solange die Festivalprogramme noch nicht erschienen sind, behelfen wir uns mit einer Liste der Kompanien, die für diesen Sommer neue Kreationen vorbereiten. Sie umfasst Copmagnie Acidu/Les Obsessionnels („Mokamok"), Compagnie Chantier mobil („Sucrés-salée"), Les Cousins (noch ohne Titel aber in Zusammenarbeit mit Wure Wurre und Décor sonore) , Compagnie International Alligator / CIA („Etat du monde"), Footsbarn Travelling Theatre („Lovers, Madmen and Poets"), Friches Théâtre Urbain („Méphistomania"), Karnavires („L'oeil du cyclone"), Compagnie Persona Magica („Turis-Land"), Skakkja („La Bal dans les Etoiles") und die Troupe de l'Escouade („Allumettes friction").
Es wird eifrig nachgedacht, allein oder gemeinsam, über die Frage wie man für den öffentlichen Raum Theater schreiben kann und muss. Das betrifft den Text ebenso wie das Visuelle und den Bezug zur „Strasse". Im November letzten Jahres trafen sich fünf Kompanien in Pigna auf Korsika, um in residence an neuen Stücken zu schreiben. Die Einladung ging aus von Lieux Publics, dem Centre national de création des arts de la rue in Marseille. Gesucht wurden neue Wege, für die urbane Landschaft Theater oder Installationen zu entwickeln. Die ersten Berichte von dort sind vielversprechend. Die Kompanie KMK macht aus Strassen- einfach Flusstheater. Ein fliessendes Stück, das am Flussufer festmacht. „Bancs de sable" (Sandbänke) ist der Titel. Eine lebendige, „fliessende", also evolutive Skulptur soll es werden. Hier wollen die Künstler vom Flussufer aus in den Dialog mit der (Stadt-) Landschaft treten. Die Kompanie Racines de nuages (Wolkenwurzeln) kündigt einen „Chœur de contrebasses" an. Zwölf Künstler mit jeweils einem schwarzen Kontrabass aus Karbonfaser. Sie wollen „auf und mit der Strasse" improvisieren. Hoffentlich reichen Inspiration und Agilität. Kumulus entwickeln ein Stück über Flüchtlingsströme. Wie erfahren die Entwurzelten den Verlust physischen, psychischen und sozialen Anhaltspunkte? Es geht darum, die Begriffe von Nationalität, Identität und Individualität infrage zu stellen. „Itineraires sans fond(s)" heisst das Stück. Einen gigantischen Käfig aus Aluminiumstreben baut die Kompanie Artonik. „Candy Candy" soll da oben dran stehen und der Kreation ihren Titel geben. Dieser Würfel (8x8m) wird rundum zugänglich sein, verhangen mit einer transparenten Folie. Das Süsse in „Candy Candy" ist reine Ironie. Es geht um den perversen kleinen Verbrecher des Alltags, der laut Artonik in Jedem von uns steckt. Schauspieler interpretieren Aussagen und Schilderungen von ganz normalen Normalos. Die Berichte von kleinen Grausamkeiten, Feigheiten , Unterlassungen sollen für Tourneen im Ausland auch übersetzt werden. Ein interessantes Projekt. Artoniks „Caliente" gehörte in den letzten Jahrem zu den Top-Hits und fand auch in Deutschland viel Anerkennung.
Nichts Neues vermeldet die Compagnie d'Ailleurs (Frankreich/Uruguay), aber ihre „Souvenirs d'ailleurs" dürften noch reichliche Reisen vor sich haben. Jedenfalls verdient es die Truppe, noch lange unterwegs zu sein mit Ihren Erinnerungen aus der Fremde. Das Stück erzählt von Reise und Wanderschaft durch Zeit und Raum in absolut überzeugender Poesie. Drei Stelzenläufer ziehen einen alten, rostigen Wagen der eine Art Chemielabor enthält. Viel Draht, Leder, ein Hörrohr und Weihrauch. Ihre Kostüme sind verblichen, ihre Silhouetten so langgezogen wie Skulpturen von Giacometti, in ihren Masken kreuzen sich Puppentheater und Pierrot. Was wie ein Märchen in pastell anmutet, mag eher ein Akt alchimistischer Prokreation sein in Wanderromantik zwischen Himmel und Hölle. Die Liebe zum Detail und die Sorgfalt, mit der die Figuren einander begegnen zeichnet die gesamte Produktion aus.
Immer mehr Gewicht auf den Festivals gewinnt das musikalische Genre. Dass Pierre Sauvageot, der das musikalische Genie von Décor Sonore verkörpert, zum Nachfolger Michel Crespins als Direktor von Lieux Publics gewählt wurde, spricht doch eine deutliche Sprache. Wenn man das Phänomen Musik in der Strassenkunst formal analysiert, lassen sich die Kreationen in mehrere Kategorien unterteilen. Zuerst die Pioniere, die eine Art „ernste Musik" produzieren und zu denen auch Sauvageot gehört, neben Urban Sax, Nicolas Frize. All diese Konzeptualisten haben sich in den letzten Jahren aus dem urbanen Raum zurück gezogen, zum Teil sogar in richtige Theatersäle. Sauvageot hat in Marseille ein Tonstudio eingerichtet, in dem auf der Strasse gewonnene urbane Klänge bearbeitet werden. Diese Technik nutzt er nicht alleine, sondern stellt sie auch anderen Kompanien zur Verfügung. Während die Strassenklänge ins Studio streben, erobert die Oper immer mehr die Strassenkunst. Die Anfänge der Compagnie Off mit „Carmen" waren so erfolgreich, dass andere nachzogen. Zum Beispiel Les Grooms. Nach der Zauberflöte für die Strasse („La Flute en chantier") machen sie sich nun an Wagner heran, mit einer „Tétralogie de quat'sous", ein Titel der mit der Dreigroschenoper spielt. Ein humorvoller Wagner für jedes Publikum, als assoziiert mit einer Inszenierung des Rings an der English National Opera im Herbst 2002. Les Grooms haben sich, und das ist natürlich historisch-politisch zu werten, für jüdischen Humor entschieden und werden einen Klezmer-Wagner spielen mit Blasinstrumenten, Perkussion und drei Sängern. Zu sehen auf Chalon dans la rue (18 bis 21. Juli), dann in Hasselt, Belgien (15.-18. August) und in London (9. Und 10. November). Und inzwischen weiss man, dass nach Les Grooms auch La Fura dels Baus aus Barcelona die Zauberflöte inszenieren und zwar 2003 in der Bochumer Jahrhunderthalle. 2004 werden sie eine neue Version von Berlioz' „La Damnation de Faust" nachlegen.
Rar sind Kompanien, die musikalischen Aufführungen einen politischen Charakter geben. Da ist vor allem Métalovoice, zuletzt mit „La presse, oratorio industriel" (siehe Trottoir Nr. 33). Die stärkste Verbreitung fanden jedoch in den letzten Jahren die Fanfaren wie Jour de fête, Bollywood Band, Les Costards, La Belle image, S.N.O.B. etc.
Und es gibt durchaus junge Konzeptualisten die Neues experimentieren. So wie Au milieu des choses, die in Sotteville ein reales Bierzelt zeitweise in eine Percussion-Basis verwandelten. Tresen, Spülbecken etc, wurden zur Schlagfläche, auch mit Schlauch oder Handtuch lässt sich elektroakustisch Klang erzeugen. Die verwirrende Improvisation wird live auf einen Grossbildschirm projiziert. Gleichzeitig also visuelle Kunst, von der bestechenden musikalischen Qualität und Klangvielfalt ganz zu schweigen. Und zwei Minuten nach dem letzten Sound floss schon wieder Bier aus dem Zapfhahn.
Zum Schluss noch der Hinweis darauf, dass in diesem Jahr einen neue Ausgabe des Goliath erschienen ist mit seinen Verzeichnissen der Festivals in Europa und darüber hinaus, von beinahe exakt eintausend Kompanien, von Spielstätten, Agenturen und Anbietern von Dienstleistungen und Ausrüstung etc. für die Strassenkünstler. Zu beziehen über Hors les Murs (www.horslesmurs.asso.fr) in 75011 Paris, 68, rue de la Folie Mericourt. Die Bibel der Strassen- und Zirkuskünstler (530 Seiten) kostet 46 Euro.
Vivacité, Sotteville lès Rouen, Frankreich
www.vivacite.com 28.-30. Juni Neue Kreationen von: Théâtre du festin: Embouteillage Cie Provisoire (UK): Théâtre cinématographique Sol Pico: Amor Diesel Géométrie variable: «Don Quichotte 2e Groupe d'Intervention: Paroles de mur Ausserdem: Sol Pico: Amor diesel Jo Bithume: Le Songe Karnavire: Les Elimineurs KMK: Tek etnik'o truk Cie Off: Les Giraffes Theater Cogatitur (Pol): Femina Transe express: Les Maudits sonnants
Parade(s), Nanterre, Frankreich
ddc@mairie-nanterre.fr
International Theater Festival Malta Poznan, Polen
www.malta-festival.info.poznan.pl
Marato de l'Espectacle, Barcelona, Spanien
www.marato.com
7.+8. Juni
Terschellings Orol Festival, Terschellings Midlands, Niederlande
www.oerol.nl
14.-23. Juni
Theater Festival Almere, Groningen, Niederlande
savandenberg@yahoo.com
Carnaval des cultures, Luxemburg
www.astm.lu
Chalon dans la rue, Chalon-sur-Saône, Frankreich
www.chalondanslarue.com,
18.-21.Juli
Dies de dansa, Barcelona, Spanien
www.marato.com
19.-21. Juli
Etcetera, Amersfoort, Niederlande
www.festivaletcetera.nl
Festival Al Carrer, Viladecans, Spanien
www.viladecans.net
Festival de théâtre de rue, Shawinigan, Kanada
www.theatrederue.com
FETA – International Street and Open-Air Theater Festival, Gdansk, Polen ++ 48 - 58 57 42 47 (Tel und fax)
International Straattheaterfestival, Gand, Belgien
www.istf.be
Intgernational Streeet theater Festival, Krakow, Polen
teatrkto@wp.pl
Festival internacional de Teatro de calle de Lekeitio, Bilbao, Spanien
ilara@euskalnet.net
Piazza, Augsburg, BRD
www.kresslesmuehle.de
Urbani Festival, Zagreb, Kroatien
www.urbanfestival.inet.hr
Dülmener Sommertheater, Dülmen, BRD
www.duelmen.de
Stockton International Riverside Festival, Necastle uponTyne, UK
www.eventi.co.uk
Arundel Festival, Arundel, UK
Tel ++ 44 – 1903 884417, Fax ++ 44 – 1903 885517
Ferrara Buskers Festival, Ferrara, Italien
www.ferrarabuskes.com
Festival d'Aurillac, Aurillac, Frankreich
www.aurillac.net
21.-24. August
Izmit Sokak Triyatrosu Festivali, Izmit, Türkei
izmitfestivali@hotmail.com
Kunstfest Weimar, BRD
www.kunstfest-weimar.de
Limburg Festival, Sevenum, Niederlande
www.limburgfestival.nl
Merseyside International Street Festival, Liverpool, UK
www.brouhaha.uk.com
Mimos, Périgueux, Frankreich
www.ville-perigueux.fr 5.-11. August u.a. mit: Warner&Consorten (NL) Bond Street Theater (USA) Bile Divadlo (CZ) Whalley Range Allstars (UK) Teatr 8 Godnia (PL) Stig Johnson/Kompanie X-Act (DK)
Strada, Graz, Österreich
www.lastrada.at
26. Juli bis 3. August
Tampere Theater Festival, Tampere, Finnland
theatre.festival@tt.tampere.fi
Theater op de Markt, Hasselt, Belgien
www.limburg.be/dommelhof
14. –18. August
Theaterfestival Boulevard, Hertogenbosch, Niederlande
www.festivalboulevard.nl
2.-11. August
Und jetzt reicht's. Den Herbst gibt's im nächsten Heft. Viel Spass beim Surfen wünscht
Redaktion: Thomas Hahn
2002-06-15 | Nr. 35 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn