Alle Varietéhäuser Berlins stellten in den ersten drei Monaten neue Produktionen vor. Begonnen hatte der Wintergarten mit der Show „Sterne des Varietés I – Rastelli" am 15. Februar. Das Haus feiert im September sein 10-jähriges Bestehen, und so werden alle vier Programme des Jahres 2002 unter dem Titel „Sterne des Varietés" an die Großen der Varietéwelt erinnern, nach Rastelli folgen Otto Reutter, Grock und Charlie Rivel. Im Rastelli-Programm, der 45. Produktion seit Bestehen des Hauses in der Regie von Bernhard Paul, war Anthony Gatto der Star, der wieder einmal durch die ungeheure Leichtigkeit und Sicherheit bei seinen schwierigen Wurfkombinationen bestach. Daneben u.a. die Ukrainer Seaworld mit einer ausgezeichneten Äquilibristik und die Exzentriker Collins Brüder, letztere Absolventen der Berliner Artistenschule, die ihre Karriere im Staatszirkus der DDR begonnen hatten. Der durch das Programm führende Mark Britton hatte es schwer, mit seiner Art Humor das Publikum zu erreichen; insgesamt vermisste man bei der Regie mehr Einfälle zum Thema „Rastelli„. Der Vorspann zum Auftritt des als Schlussnummer platzierten Gatto mit historischen Fotos und Filmsequenzen von Rastellis Arbeit war für eine solch thematisierte Produktion wohl nicht ausreichend.
Am Premierenabend enthüllte Bernhard Paul in Anwesenheit des Enkels Enrico Otto-Rastelli eine im Foyer angebrachte Büste Enrico Rastellis.
Im Chamäleon war die Premiere erst einmal verschoben worden, mit „Schauertime" präsentierte sich eine Produktion des Artistenensembles Shox, Absolventen der Berliner Artistenschule „Die Etage". In ihrem „Jahrmarkt der Skurrilitäten" gab es nette Einfälle und gute Ensembleleistungen, akrobatisch beeindruckte vor allem die Absolventin der Staatlichen Schule für Artistik, Franziska Riva, auf dem Tanzseil.
Ein wenig im Schatten stehen bedauerlicherweise die Veranstaltungen des Urania-Varietés, im März in der 239. Folge. Produziert werden diese einwöchigen, zwei Mal im Jahr stattfindenden Reihen für Senioren durch den unermüdlichen Erich Richter. Das klassische Nummernprogramm, dieses Mal u.a. mit den Bay Balls vom Kinder- und Jugendzirkus Cabuwazi, der China-Show von Tseng-Hai-Sun und einer BMX-Rad-Akrobatik wird umrahmt von Balletteinlagen und regelmäßig begleitet von der ausgezeichneten Reinhard-Stockmann-Band aus Dresden. Erich Richter selbst präsentiert in jeder Serie einen Stargast, hier Peter Petrell.
Mit Spannung erwartet wurde die Premiere der neuen Revue „Wunderbar. Die 2002. Nacht"
im Friedrichstadtpalast. Auch wenn sich das Haus nicht als Varieté, sondern als Revuetheater versteht, können Revue und Varieté allein schon historisch auf Gemeinsamkeiten verweisen. Premieren dieses Hauses sind in Berlin immer auch ein gesellschaftliches Ereignis, zumal sie auf Grund der Dauer der Produktion seltener stattfinden als etwa im Wintergarten.
Die Idee der Revue (Buch Sascha Iljinski, Jürgen Nass, Roland Welke): Die Geschichte von Scheherazade aus 1001 Nacht wird fortsetzt, die Märchenerzählerin heiratet den Sultan, ihre Schwester Dinarsade versucht, den Sultan für sich zu gewinnen und der Wesir verschwindet mit der soeben Angetrauten. Damit beginnt eine Zeitreise der Hauptfiguren, und der Handlungsfaden wird nun mehr oder weniger undurchsichtig. Das ist zu verschmerzen, es geht ja letztlich um schöne Revuebilder, und die Handlung ist im Programmheft nachlesbar. Leider wird aber in der weiteren Folge vieles zufällig, und der Regisseur (Jürgen Nass) scheint sich zu sehr in die zweifellos beeindruckenden technischen Möglichkeiten des Hauses verliebt zu haben.
Beeindruckend das Auftakt-Bühnenbild, nachempfunden der Juwelierarbeit „Geburtstag des Großmoguls" von Dillinger im Dresdner Grünen Gewölbe, und auch die Unterwasserszene mit Seepferdchen bleibt in Erinnerung. Auch choreografisch war das Palast-Bild sicher das gelungenste mit dem farbigem Geschehen zur Hochzeitsfeier, in dem sich Tänze der Gäste, die chinesischen Akrobaten und die Soli von Sultan, Wesir und Scheherazade (Susann Malinowski) zum bunten Treiben vereinen.
Das Ballett muss sich ansonsten vorrangig mit Bauchtanz und Disco-Rhythmen begnügen, wenigstens auf die berühmte Girlreihe wurde nicht verzichtet. Die Musik von Thomas Natschinski zitiert unterschiedliche Stile und Richtungen, auch Anklänge an den Cirque du Soleil sind nicht zu überhören. Drei Sänger, Karim Khawatam, Christian Venzke, Isabel Dörfler, haben die Aufgabe, die etwas pseudophilosophisch anmutenden Texte vorzutragen. Die Artistik erhält wie immer starken Beifall, hervorzuheben die Hunan Troup aus China, Mastakrobatik mit starken Auf- und Abgängen und schönen Sprüngen von Mast zu Mast. Ausgezeichnet auch das Duo Volkov mit einer kraftvollen Hebeakrobatik. Bühnenwirksam die Truppe Voltige Kieva mit Wurfarbeit, dazu das Trio Nasikov an Luftringen.
Unter Besucherproblemen wird auch die neue Revue nicht zu leiden haben, hat sich die Auslastung des Hauses doch ständig erhöht und ein Besuch das Friedrichstadtpalastes gehört zum Programm der meisten Berlin-Besucher.
Die Bar jeder Vernunft begeht in diesem Jahr ebenfalls ihr zehnjähriges Jubiläum. Dazu wird in der Nähe des Bundeskanzleramtes ein zweites Zelt mit 500 Sitzplätzen aufgestellt, in dem u.a. Gastspiele von Victoria Chaplins „Cirque Invisible" und der „Dark-Variety-Show" der Tiger Lillies angekündigt sind.
Eine weitere Premiere fand am 17. April unter dem Titel „Hundert%" im Chamäleon-Varieté statt, die neue Produktion ist als „ARTistikal" angekündigt, Regie hat Markus Pabst.
Der Wintergarten startet am 17. Mai mit der Otto Reutter gewidmeten Show „Sterne des Varietés II", Regie hat dieses Mal nicht Bernhard Paul, sondern der ehemalige Intendant des Theater des Westens, Helmut Baumann; dabei sind u.a. der Comedy-Künstler Avner Eisenberg, die Akrobaten Les Petits Frères und die Leopards.
Redaktion: Dietmar Winkler
2002-06-15 | Nr. 35 | Weitere Artikel von: Dietmar Winkler