Die Exoten bleiben ein wichtiger Teil der Szene und eine besondere Attraktion jeder wahren Metropole. Deshalb seien Häuser vorgestellt, die Bühnenkust aus fernen Gefilden nach Frankreich bringen. Auch wenn es nicht möglich sein wird, sie alle zu erwähnen.
Zwischen Japan und Europa
Mitten im Zentrum von Paris, gleich neben der Place du Chatelet, eröffnete vor zwei Jahren das Tenri, ein japanisches Kulturzentrum.Hier gibt es eine Mediathek, Sprachkurse, Ausstellungen japanischer Künstler und immer mehr Aufführungen auf der kleinen Bühne im Keller des Hauses. Meistens Butoh oder zeitgenössischer Tanz, alles kleine Formen, viele Solo-Auftritte. Die Tänzer und Choreografen sind in der regel japanisch, doch nicht alle von Ihnen leben auch in Japan. Denn Paris ist selbst eine Butoh-Hochburg mit einer lebendigen Szene. Zweimal im Jahr läuft im Tenri-Zentrum das Festival Dance Box und im Juni wird es zusätzlich das erste reine Butoh-FestivalNeu-Blanc-Ako geben. Die Ausgabe März/April 2002 brachte u.a. ein interessantes Solo von , einer Tänzerin aus Tokio. Der Titel ist selbst schon ein Haiku. « Im Nebel/Tastend suchen/Du, die Tür. » Am Anfang sitzt sie, über eine Stuhllehne gebeugt, und die Haare verbergen ihr Gesicht. Alles geschieht unter wenig Licht, aber hoher Spannung. Später breitet sie ihren schwarzen Mantel auf dem Boden aus und legt einen Strauss Rosen darauf. Eine Abschiedszeremonie. Ein grosses Geheimnis begleitet sie, wie eine übernatürliche Erscheinung aus dem No-Theater. Ein Alptraum, oder vielleicht doch nur der Nebel. Ein fesselndes Solo aus Mime und Körpertheater von einer Tänzerin, die inoffiziell schon in Berlin auftrat und in Japan mit dem bekannten zeitgenössischen Choreografen Saburo Teshigawara arbeitete.
Absolut zeitgenössisch und eine interessante multidiziplinäre Kreation ist « L’Esprit du vent » (Der Geist des Windes), in der die japanische Tänzerin Masumi Kawakita zur Live-Musik des Gitarristen Jo Vurchio improvisiert und mit den Bildern der Malerin Anne Bruyere verschmilzt. Nach langer Karriere in Japan und den USA lebt und arbeitet Kawakita heute in Paris. Brillianterweise läuft dieses originelle Stück der Kompanie J.A.M. sowohl auf Tanz- als auf Gitarrenfestivals. Dunkle Schatten in der Nacht, weisse Schatten, die in den Projektionen der indisch, afrikanisch und japanisch beeinflussten Bilder wie virtuelle Umrisse einer Figur erscheinen. Den Effekt sollten sie sich patentieren lassen. Kawakitas Tanz ist ganz und gar westlich zeitgenössisch. Allein das Zeitlose und das Durchdringen des Körpers lassen auf Japanische Wurzeln schliessen.
Aber was ist Butoh ? Letzendlich lautet die Antwort, wie in der Kunst allgemein : Butoh ist, was ein Butoh-Tänzer macht. Zum Beispiel Masaki Iwana. Er ist der letzte, von dem man eine Komik-Performance erwarten würde. Er macht sie dennoch. Auch er lebt in Paris und hat sich von einem verschlossenen Asketen in einen entspannten Zeitgenossen verwandelt. Das sieht man auch seinen neuen Kreationen deutlich an. In „La Famille invisible“ tritt er mit dem Akordeonisten Claude Parle auf. Zwar werden Iwanas Stücke immer figurativer und weniger furchterregend, aber die erwähnte unsichtbare Familie ist jene zwischen seinem Tanz und der Musik. So mischen sich in seiner Figur, die Hut und Mantel trägt, Einflüsse wie von Kafka oder Buster Keaton. Warum sollte man im Butoh nicht lachen dürfen ? Melancholie steckt sowieso in jedem Clown, so auch hier.
Zwischen Tradition und Moderne
Und noch ein Festival. Jedes Jahr im März bietet La Maison des Cultues du Monde ein Panorama aus Musik, Tanz und Theater aller Kontinente. Françoise Gründ und Sherif Khaznadar durchstreifen auch die entlegensten Länder, um traditionelle Formen oder auf Tradition beruhende zeitgenössische Aufführungen an die Seine zu bringen. Le Festival de l’Imaginaire heisst das Ereignis, das in dem leider viel zu kleinen Saal der Alliance Française (immerhin 250 Plätze, aber dennoch, für ein Ereignis diesen Ranges…) stattfindet. Eine Fundgrube für Liebhaber der Weltmusik, wie auch die dort herausgegebene CD-Kollektion Inédit. In diesem Jahr kamen u.A. der iranische Kurde Ali Akbar Moradi mit mystischen Oden und säkularen Gesängen, zu denen er sich am Tambur begleitet. Oder Benik Abovian & Zaven Azibekian aus Armenien, präziser aus dem Tawusch, einer Grenzregion zu Azerbeidschan. Zurna, Duduk und Sring heissen deren traditionelle Blasinstrumente.
In dem umfangreichen Musikprogramm ging die unglaubliche Reise ferner nach Äthiopien, Kazachstan, Marokko, Tschetschenien, Indonesien oder Kamerun. Oder Indien. Dort fanden sie die bengalische Erzählerin Parvathy, die sich selbst durch Musik und Tanz begleitet. Gerade ein Vierteljahrhundert ist sie alt, und ausgestattet mit unglaublicher Energie und einer wilden Afro-Frisur. So zieht sie durch das Land und verkündet die grossen Mythen vonVishnu oder Krishna.
Die zweite Erzählerin im Programm kam aus Kairo und hatte ein paar Geschichten aus 1001 Nacht im Gepäck. Shirine Al Ansari arbeitet ohne Musik und hatte auch ihr Bühnenbild zu Hause gelassen. Eine gute Idee, denn bei ihr steht das Wort im Wort. Sie eignet sich die Geschichten auf ihre Weise an und arbeitet heraus, dass Sheherazade eine Gelehrte war, die das Risiko des Sterbens auf sich nahm, um dem Blutbad ein Ende zu setzen. Oder die Feigheit ihres Vaters des Wesirs, der die Entjungferten tötete, aus Angst um seine eigenen Töchter. Shirine Al Ansari vermischt englisch und arabisch oder französisch und arabisch. Und das ersetzt alle visuellen Ornamente. Sie sitzt nicht sondern bewegt sich ständig, trägt den Rythmus der Erzählung im Körper. Es ist als käme sie zu jedem Zuschauer einzeln, um ihm eines ihrer Wörter direkt vor die Füsse zu legen. So stark ist ihr Ausdruck, dass man auch auf arabisch jedes Wort zu verstehen glaubt, die unmittelbar folgende Übersetzung kaum wahrnimmt. Fast eine Tänzerin ist sie, und bestimmt eine Actrice, würde sie es versuchen. In Kairo sprengt sie als erzählende Frau eine Männerdomäne. Und hat Erfolg. Eine Revolution in einer uralten Kunst, inspiriert von der Art, in der Frauen unter sich die Geschichten weiter erzählen. In aller Freiheit, die sie aus ihrer persönlich enwickelten Technik bezieht. Manche ihrer Gesten erinnern an die Leichtigkeit der Pantomime. Und sie hat tatsächlich in Paris Tanz und Theater studiert, bevor sie nach Kairo zurückkehrte.
Ebenfalls aus Kairo kommt Karima Mansour, die erste und einzige zeitgenössische Tänzerin des Landes. Sie trat im Institut du Monde Arabe auf, dem von der arabischen Welt gemeinsam finanzierten Kulturinstitut am Seineufer. Hier kann man das ganze Jahr über Ausstellungen und Aufführungen entdecken. Ihre Tanzausbildung erhielt Mansour in London und Italien. Doch ihr Solostück, das sie in Paris vorstellte, und das ganz einfach « Solo » heisst, erinnert eher an die Anfänge von Pina Bausch. Vielleicht, weil Tänzerinnen in arabischen Städten noch heute weit mehr einen Kampf zu liefern haben als Wuppertalerinnen vor zwanzig Jahren. Das Ergebnis ist eine sehr persönliche Recherche. Man sieht sie wehrlos an der Wand, festgenagelt von einem Spot im Kampf mit übermächtigen Kräften, begleitet von afrikanischen Klängen. Mansour stellt ihre Kreationen regelmässig auch auf dem Tanzfestival von Marseille vor. A propos Marseille...
Zwischen Aix und Marseille
Die ganze Welt zu Gast in Paris, aber ohne sich gegenseitig zu begegnen. Ganz anders in Marseille und Aix-en-Provence. Dort ist in den letzten Jahren ein Tanz entstanden, der alle Kontinente und Epochen aufgesaugt hat. Unter der Leitung der Choreografin Josette Baiz entstanden eine Tanzschule und die erste professionelle Kompanie, die in zehnjähriger Recherche den Tanz des dritten Jahrtausends erfand. Afrikanisch, arabisch, asiatisch, Hip Hop, zeitgenössisch, Ballett, Musical und mehr kamen in den Schmelztiegel. Es funktioniert. Einen Begriff gibt dafür bisher nicht. Man spricht vom „Style Grenade“. Wer ein Stück der Compagnie Grenade sieht, glaubt einen neuen Planeten zu entdecken. So viel Power wie im Hip Hop, aber eine völlig andere Marschroute, Solidarität statt Herausforderung. Das neue Stück von Grenade heisst „Time/Break“. Immer wieder wird das Stück unterbrochen und die Tänzerinnen verteilen Schokolade im Publikum. Der humoristische Aspekt in den Stücken von Grenade ist so stark dass auch Frankreichs Kinder inzwischen Fans der Kompanie sind. In allen Stücken von Grenade, ob „Turbulences“, „Capharnaum“ oder „Time/Break“, zeigt sich, dass Kulturen aus der Begegnung Energie und Humor schöpfen können, anstatt sich zu verlieren. Die Tänzer sind Kinder französischer Eltern oder von Einwanderern aus Maghreb, Afrika, Asien, aus armen und reichen Vierteln von Aix und Marseille. Eine getanzte, reale Utopie, ein grosses Vergnügen für die Zuschauer.
Redaktion: Thomas Hahn
2002-06-15 | Nr. 35 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn