Zeit, einmal einen Architekten vorzustellen. Nicht, dass er reiner Zirkusarchitekt wäre, aber Patrick Bouchain ist in der Materie so erfahren, dass er sich nicht nur mit Skizzen und Baumaterialien auskennt, sondern auch mit den Bedürfnissen der Artisten. Der Holzbau des Theaters von Zingaro war seine Kreation, und auch die Installation der Reitschule im Schloss von Versailles. Bouchain zeichnete auch verantwortlich für die Öko-Architektur der Académie Fratellini in Saint-Denis, deren provisorischer Aspekt in der Verbindung von Holz und Wellblech einen subversiven Akt darstellt, denn der Fratellini-Bau liegt mitten in einem Businessviertel voller Büroneubauten aus Glas und Beton. Innen aber ist die große Manege dann wieder so beeindruckend, dass hier selbst das Kulturministerium repräsentiert. Und die Angestellten der Versicherungen freuen sich über ein Stück Menschlichkeit und das Restaurant mit orientalischem Ambiente. Für die Zirkusschule Rosny-sous-Bois, ebenfalls nahe Paris gelegen, erdachte Bouchain ein buntes Zelt (sieben Masten) in Form eines chinesischen Drachens, unter dem zwei Manegen, Büros, Technik und alles Weitere Platz finden. Die Bilder dazu finden Sie unter www.horslesmurs.asso.fr/diaporama.
Gleichzeitig renoviert Frankreich seine festen Bauten des 19. Jahrhunderts, z. B. das ehemalige Cirque-Théâtre Omnia in Elboeuf (Normandie), einer von acht erhaltenen Winterzirkusbauten, alle im Norden Frankreichs gelegen. Hier wird die Komplettrenovierung nichts an den ursprünglichen Maßen von Manege und Rängen ändern. Sie begann im Frühjahr 2004, die Neueröffnung ist für 2006 vorgesehen.
Längst Geschichte ist die Renovierung des Cirque d’hiver in Paris. Hier feiern gerade die Bougliones siebzig Jahre familiäre Anbindung an den schmucksten aller Winterbauten. Aber auch der Cirque d’hiver kannte eine Zeit als Kino und Theater, von 1870 bis 1923. Die Bougliones erwarben das Theater 1934. Glückwunsch also an die so weit verzweigte Familie, für die trotz ihres Prunkbaus das Leben solidarisch und unprätentiös weiter geht. Glückwünsche auch an Buffo, den Clown des Amerikaners Howard Buten (Trottoir 40/2003), der weiter seinen dreißigsten Geburtstag feiert, und an den Cirque du Soleil für seine zwanzig Jahre.
Auch Les nouveaux nez sind, trotz ihres Namens, nicht mehr die Jüngsten. Ihr fünfzehnjähriges Jubiläum ist jedoch rein inoffiziell. Wenn die vier Clowns, Akrobaten, Sänger und Musiker (da kann Jede(r) alles) unter ein Zirkuszelt schlüpfen, ist „Le Cirque des nouveaux nez“ eine Metapher. Der Abend beginnt mit einer fiktiven, ironischen Rede über die Geschichte des Zirkus und endet mit einer satirischen Friedensfeier. Les nouveaux nez spielten (bzw. clownten) ja schon Shakespeare. Warum also sollten sie auf ein paar Aussagen verzichten? In erster Linie aber sprechen sie mit ihren unglaublich flinken Gesten, die das Stück antreiben und sich mit Worten und Klängen zu einem wahren Wirbelsturm verbinden. In ihren „Cirque“ haben sie zudem Musiker und Artisten des Cirque Zanzibar und anderer Truppen eingeladen. Sie lieben schrill-überzogene Kostüme von Akrobaten des 19. Jahrhunderts oder bretonische Trachten. Sie verwandeln sich, mehr oder weniger unfreiwillig, in Hund, Baby, Schmetterling, Riese und Zwerg oder gehen mit dem Flammenwerfer in die Luft, ohne darüber Kunstrad, Seiltanz, Akrobatik etc. zu vernachlässigen. Bei allem Wirbel erlaubt ihnen ihre lange Recherche, so weit in die menschliche Natur vorzudringen wie sonst nur die Crème der russischen Clowns. Ihre fünfte Kreation ging einher mit der Eröffnung eines ständigen Zirkusgeländes am Théâtre Firmin Gémier in Antony, kurz vor Paris. Dort werden jährlich Kompanien in residence kreieren können (http://perso.wanadoo.fr/nouveaux.nez).
Ebenso behutsame Erneuerer der Tradition sind Les Cousins, und wie die Neuen Nasen sind auch sie seit 1990 als Familie unterwegs. René der Clown, Julot der Akrobat und Lolo der Jongleur sind zwar keine Sänger, aber exzellente Schauspieler und Poeten. Vom traditionellen Zirkus unterscheidet sie, dass sie ihre Gags aus der Welt von heute speisen und dass sie über dem Unterhemd einen Anzug tragen. Ihre Leiden durchleben sie nicht ergeben, sondern indem sie sich über sich selbst lustig machen. Und ihre Nasen sind so wie sie eben sind. Aber das ist für das Trio Infernale kein Grund aufzugeben, was den Clown seit Urzeiten ausmacht. Und das ist nun mal das unfreiwillige Austeilen und unbewusst freiwillige Einstecken von Schlägen. Die überraschen bei Les Cousins trotz aller Konvention jedes Mal, weil das Trio sein Spiel zwischen den „Zeilen“ im Schlaf beherrscht. Sie sind geistig ebenso beweglich wie körperlich. Und wenn sie die Schläge mit dem Mikrofon austeilen, tut das auch dem Zuschauer direkt weh. So heißt ihr Programm trotzig: „Y’a pas de quoi rire“ – nichts zu lachen! Schon gar nicht über Renés ständige Missgeschicke oder Lolos Auftritt als Balletttänzer. Der Ska-Rhythmus zur Jonglage ist das Sinnbild ihrer Begeisterung, ihrer fantastischen Energie (www.lescousins.org).
Das Seil schafft Verbindung, im Handwerk wie im Bergsteigen. In der Hand von Jutta Knödler (Trottoir 44/2004) verbindet es Deutschland und Frankreich ebenso wie Artistik mit Musik, elektronischer und Videokunst. Nö heißt die Kompanie der gebürtigen Schwäbin, die in der Zirkusschule von Rosny-sous-Bois ausgebildet wurde, zehn Jahre vor deren Neubau (s. o.). Längst residiert sie in Marseille und kreierte „Herz“ im Theater von Arles. In der zeitlosen Poesie der Camargue stechen neue Technologien umso mehr ins Auge. Und hier besonders deshalb, weil der Zuschauer nachvollziehen kann, wie das Herzstück Seil und der Schlagzeuger die Computerbilder auf der Rückwand beeinflussen. Der Musiker beginnt sein Spiel wie zu einem gemeinsamen Ritual. Die Artistin liegt am Boden und schwingt das Seil in silbern-nächtlichem Licht. Weiß brennen sich dessen Schatten auf die Leinwand, wie in Eis erstarrt. Farbschlieren, Wörter und Bilder werden folgen. SIE am Seil, zwischen Himmel und Erde, den Lotussitz auch kopfüber beherrschend. Die Projektionen zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein, das Schlagzeug zwischen Kristall- und Dauerton. Die Computer regieren mit sanfter Hand und streicheln die vier Kunstsprachen. Mal schreibt sich Knödlers Schatten in die Kalligraphie der Gedanken, mal erlebt man sie als Schamanin, die ihr Abbild auf die Bühne brennt, bis es sich endlos vervielfältigt. Französisch wird aus Nö der Knoten, le noeud. Nö steckt mitten in „Knödler“, und der Knoten im Seil entspringt immer wieder den Schwingungen der Artistin. Plötzlich ist er da. Knödler widmet ihre fünf Kardiogramme der Luft, den Pflanzen, dem Atem, dem Denken und der Zeit. Aber ist die Zeit nicht immer angehalten, ist die Luft nicht immer präsent, wenn man im Seil dreht, und das Denken nicht schon deshalb, weil Knödler in dieser traditionellen Disziplin immer neue Energien erfindet? War das Seil nicht im Ursprung pflanzlich? Sind Denken, Luft und Pflanzen ohne Atmung vorstellbar? So spannend zirkuliert die Inspiration, dass einem mögliche Esoterik erst später bewusst wird. „Herz“ ist Harmonie, die aus der Zukunft kommt (www.noeud.org).
Ein Raum im Baum ist ein Ort der Metaphysik an sich. In „Calao“ spielt eine junge Choreografin und Artistin mit ihren Ängsten und Freuden. Corine Cella taufte ihre Kompanie Rouge Elea und bietet Choreografie in der Luft und Gitarrenbegleitung am Boden. Rot bekleidet schwingt sie in ihren Tüchern zwischen den Ästen hoch über dem Boden in so kreativen, unvorhersehbaren Figuren, dass das Gefühl der Freiheit nicht nur eins der Schwindelfreiheit ist, sondern ein ganz und gar künstlerisches. Baum und Himmel werden zu einem Blatt, das sie mit der Kalligraphie ihres Körpers ausfüllt, bis das Gedicht auch ohne ihre Präsenz zwischen Ästen und Blättern sichtbar bleibt (pitithea@yahoo.fr).
Auch Johann Le Guillerm experimentiert in „Secret“ mit der Natur. Nicht elektronische Wunder sind hier zu betrachten, sondern die Gesetze der Physik. Von der Illusion eines Perpetuum mobile bis zur kleinsten Windhose der Welt. Als Dompteur der Materie biegt er sein Stahlrohr, bis die kinetische Energie diesem selbst zu entfahren scheint. Mit dem Seil verbindet er Holzlatten, die sich in den Himmel schrauben, Le Guillerm immer obenauf, mittendrin als Akrobat einer hölzernen Helixstruktur. Eigentlich vollbringen hier die Gegenstände die Kunststücke. Und doch verheimlicht Le Guillerm nie die Anstrengung, die seine Nummern verlangen. Cirque ici? Hier also? Komplett wird „Secret“ erst mit der begleitenden Ausstellung natürlicher und von Le Guillerm geschaffener Spiral- und Schneckenstrukturen, die ab 2007 als „La Motte“ auf Tournee gehen soll.
Redaktion: Thomas Hahn
AdNr:1085
2005-06-15 | Nr. 47 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn