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    Bye, bye Chansonbühne

    Für viele war Hannovers Theater im Künstlerhaus das Sprungbrett auf größere Bühnen: Georgette Dee gastierte hier oft, bevor sie das große Theater am Aegi füllte, und auch Tim Fischer, das schrille Duo Bo Doerek wurde hier zum Kult, zuletzt gabs im Mai für „The return of Roger and Renate“ mit Hits aus 40 jahren dreimal volles Haus. Und nicht zuletzt arbeitete das preisgekrönte Chanson-Duo Schneewittchen alias Marianne Iser und Thomas Duda hier auf einen ähnlichen Karrieresprung hin. Doch nun, nach knapp 20 Jahren erfolgreicher Arbeit ist das Haus dicht: 10.000 Euro weniger im schon mehrfach gekürzten Etat waren endgültig nicht mehr aufzufangen. „Einmal sing ich noch...“, absolvierte Hannovers dunkelstimmige Diseuse Alix Dudel ihr letztes Heimspiel, mit Trauer und Wut im Bauch; ein Special der literarisch-satirischen „Fitz-Oblong-Show“ bildete Anfang Juni das Finale.  Kontor für Kunst und KulturAus, vorbei. Dabei hat das veranstaltende Theaterbüro mit Christiane Winter an der Spitze hervorragende Aufbauarbeit geleistet, das Profil des Hauses von einem Gastspielhaus für experimentelle Bühnen über Kleinkunst schließlich hin zu einem idealen Auftrittsort für Chanson, musikalische und tänzerische Comedy entwickelt. Die Auslastung war gut, der Zuschussbedarf hielt sich in Grenzen und eine vergleichbare Bühne ist in Hannover auch nicht vorhanden. Das Theaterbüro wird sich jetzt ganz auf das TanzTheater-Festival konzentrieren, das Theater im Künstlerhaus nur noch als Spielstätte für das Kommunale Kino dienen, wo eine meist recht spärliche Zuschauerzahl die frisch renovierten Reihen drückt. Erst kürzlich hat man das ganze Haus für teures Geld renoviert, musste noch mehrfach nachrüsten, weil gerade die neu eingerichtete Literaturetage eine katastrophale Akustik hatte: Schilda lässt herzlich grüßen. Wo nun in Hannover mittelgroße, aber hochwertige Chanson-Acts auftreten sollen? Nun, mit solch gestalterischen Fragen plagen sich politische Gremien lieber nicht.

    Weder das Aegi-Foyer mit seinen Nacht-Cafés noch die Kleinkunstbühne Marlene können vernünftig in die Bresche springen, obwohl sich vor allem das letztere Haus um ein vielfältiges Programm bemüht. Hausherrinnen sind dort „Die Bösen Schwestern“, die mit dem Kleinkunstverein „Freche Rübe“ zum zweiten Mal den Wettbewerb um die „Goldene Rübe“, Kleinkunstpreis für Norddeutschland, ausschrieben. Und wieder fühlten sich viele berufen, wurden aber wenige auserwählt. In der Endrunde, aber letztlich preislos ließ Robert Wicke aus Hannover die Keulen wirbeln und ging dabei in die Knie: Die Decke über der Bühne hängt zu niedrig für Höhenflüge. Doch so nett und charmant Wicke war, so wenig ungewöhnlich präsentierte er seine Kunst. Ähnlich auch bei Thomas Moritz: Er mimte den jovialen, zerknautscht-gehemmten Bankangestellten, der sich bei einer A-Cappella-Gruppe durch Vorsingen bewerben will. Das war ausbaufähig, die Figur hat noch nicht genug Konturen, es mangelte im Feinschliff. Preiswürdiger wäre das Duo Sybille Hein und der kleine Wahnsinnige gewesen - das waren früher doch mal zwei Wahnsinnige, oder? Wie sich Hein orgastisch auf dem Flügel wälzt und über die Intimität von Schrankwänden singt, das hat schon Klasse. Doch die Jury schenkte ihre Gunst anderen, durchweg musikalischen Darbietungen: Michael Krebs persiflierte am Piano Clayderman-Pop und therapierte Stars durch Eigenliebe: „Guildo hat sich lieb“, ließ er den Horn singen, dritter Platz. Die Males babes hatten es in vergangenen Jahr schon einmal versucht, diesmal hatten sie mit ihren witzigen Chansons über männlichen Gebärneid und Rocknummern in Schieflage mehr Glück: Zweiter Platz für ihre „offenen Herzen und Hemden“. Den ersten Platz holte ein Poet, der für Schräges und Sozialkritisches bekannt ist:  Peter Düker und Musiker Holger Kirleis von der Hebebühne Hannover („Männer angstfrei“) besangen den Mut zur Blamage und reimten Nonsens zum Sexualleben der Spinnentiere. „Originell, authentische Darstellung, kantig, aber niemals penetrant, sarkastisch und ermutigend zugleich“: Hohes Lob fand die Jury für die Preisträger und zu Recht. Die Hebebühne hat sich in Hannover als Künstlerkooperative etabliert, die Unterhaltung mit Parteinahme wunderbar zu vereinen weiß. Ein neues Programm „... als jage der Wahnsinn“ hatte Ende Juni Premiere, eine literarisch-musikalische Collage der Büchner-Preisrede von Ingeborg Bachmann und Auszügen von Büchners „Lenz“, ein Grenzgang am Rande des Fiebers und der Überdrehtheit, ein Irrsinns-Rap mit Klanggewitter, ein „Hörbild“, in dem ein Sprecher und eine Sprecherin wie Sänger in einer Band agieren. Dramatisch, anstrengend, eindringlich.
    Und noch ein Ereignis ging in die zweite Runde: Hannovers A-cappella-Woche hatte 2001 ein überaus erfolgreiches Debüt mit fast immer ausverkauften Häusern erlebt. Und auch diesmal: volle bis ausverkaufte Häuser, ein grandioser Auftakt mit der Real Group, fünf meisterhaften, überaus unterhaltsamen Vokalisten aus Schweden, danach ein vielseitiges Programm von italienischen Madrigalen bis zu A-Cappella im traditionellen „Kaktus“-Stil von den Tailed Comedians, die übrigens auch den Gesang beim Vilsmaier-Film damals eingespielt haben. Absolutes Highlight aber war die niederländische Gruppe Intermezzo: Die hüpften, brüllten, stampften und krächzten ein angejazztes Gesamtkunstwerk, schrill und einzigartig, gaben sich dann wieder ganz zart, intonieren, Herz und Himmel verbindend, gregorianische Kläge à la „Stabat mater“. Mitveranstalter des Festivals war beide Male die hannoversche A-Cappella-Gruppe Modell Andante, die mit ihrem spitzbübischen Charme, sängerischen Können und wunderbar schrägem Witz das ausverkaufte Haus zum Toben brachte. Fortsetzung folgt im nächsten Jahr.

    Apropos ausverkauft: Erstmals schafften es Hannovers Bühnen, dass sich um Sitzplätze im Theater und Kabarett fast geprügelt wurde. 17 Häuser der Stadt hatten sich zusammen getan, um analog zur langen Museumsnacht eine Lange Nacht der Theater auf die Beine zu stellen. Für acht Euro gabs ein Bändel, das zum Eintritt in die Theater sowie zur Benutzung des Pendelbusses berechtigt, 18 Euro im Doppelpack mit einer langen Partynacht. Schnell wurde klar: Da hatte man mehr Geister gerufen, als man verkraften konnte und wurde sie nicht wieder los. Das Tak arbeitet fast in Doppelschicht und schleuste im 20-Minuten-Takt Hunderte durch Kalla Wefels Nummer über die drei Akkorde der Rockmusik („G-C-D-C, alles G-C-D-C“) und Andreas Rebers‘ hintersinnige Betrachtungen über des Deutschen Kultur ab. Drängelei im Künstlerhaus, wo die Croonettes „Best of Swing“ präsentierten, Schlangestehen bei der Hebebühne, die als ungewöhnlichen Spielort den Gehry-Tower, Hauptverwaltung der Verkehrsbetriebe gewählt hatte. Viel Ärger, weils so voll war - aber immer noch besser als zu leer.

    Ansonsten drehte sich das Gastspiel-Karussell wie gewohnt weiter. Lokalmatador Matthias Brodowy wurde von einer hannoverschen Kritikerin in dezenten Tönen bescheinigt, dass sein Programm „Eintritt frei und andere Lügen“ allmählich Spinnenweben ansetzt. Er gelobte Besserung und machte sich ans Feilen und Polieren. Bei Auswärtigen dürfte eine ähnliche Kritik kaum dieselbe Wirkung gehabt haben: So plauderte Horst Schroth bei seinem „Herrenabend“ in Hannovers knallvollem Pavillon zwar gewohnt brillant über das alltägliche Gefecht der Geschlechter und balancierte selbstironisch am Rand des so genannten Herrenwitzes lang ohne abzustürzen. Dennoch wirkt das Ganze ätzend abgeklärt, weichgespült, in die Jahre gekommen. Allenfalls sein Witz über Machos und Supermachos ließ noch was von der alten Unverfrorenheit und schamlosen Dreistigkeit erkennen, das frühere Trio-Programm „Sex total“ oder das Solo „Scharf auf Harakiri“ auszeichneten. Der Hang geht offenbar zum lange Haltbaren; auch Lars Reichow spulte sein Programm „Piano Torte“ im knapp halb besetzten Theater am Küchengarten buchstabengetreu ab. So schön seine absurd-verspielten Geschichten um den gemeinen Honigbienerich und seine schwarz-weiße Gespielin: Die Stiche werden allmählich stumpf.

    Bleibt der Ausblick, allen voran auf das Comedy-Festival Mimuse in Langenhagen: Das zieht sich auch in diesem Jahr vom 12. Oktober bis Mitte Dezember über zwei Monate hin und hat bis auf wenige Überreste (Mimuses Maxi-Mix, die Gala zur Eröffnung) alle Kennzeichen eines Festivals aufgegeben. Jörg Knör (19.10.), Richard Rogler (24.10.), Volker Pispers (16.10.), Dirk Bielefeldt (22. & 23.10.), Bo Doerek (30.11.) und Lisa und Nepo Fitz (14.12.) sind als Gäste angekündigt: Business as usual, das recht durchsortierte Frühjahrsprogramm mit Käthe Lachmann, Thomas Breuer, 2 Kölsch, ein Schuss, David Leukert, Arnulf Rating, Jo van Nelsen und Kom(m)ödchen hätten die Mimuse-Macher genauso gut zum Festival erklären können. Schade drum.

    Redaktion: Evelyn Beyer

    AdNr:1047t 

    2002-09-15 | Nr. 36 | Weitere Artikel von: Evelyn Beyer





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