Wo sind die großen Tribünen geblieben, auf denen Hunderte von Zuschauern Platz fanden? Dass es immer weniger Aufführungen großen Formats mit schweren Installationen gibt, hat seine Gründe in gestiegenen Kosten und verschärften Vorschriften. Es gibt aber doch interessante Beispiele für Aufführungen, denen schweres Material ein besonderes Prickeln verleiht. Andere haben Wege gefunden, den materiellen Zwängen zu entkommen und neue Freiheiten zu erobern.
Der Hit der Saison war ... ein Bagger! Der Choreograf Dominique Boivin stellt seinem besten Tänzer, Philippe Priasso, einen Schaufelbagger zur Seite. Beide tanzen ein Duett, in dem die Maschine zur Partnerin wird, zum Raubtier, zur Angebeteten. Ein Adagio in Hassliebe, wie eine ganz normale Beziehung eben. Hier in unglaublich starke Bilder umgesetzt, zu Arien der Callas. Vom Auftritt bei Mimos ging’s direkt nach Brasilien usw. Und überall suchen sie sich vor Ort einen roten Schaufelbagger. Der Tontechniker der Kompanie hat extra für das Stück das Baggerfahren erlernt. Inzwischen dürfte er darin jede Meisterschaft gewinnen, falls es so etwas gibt. Und er stoppt schon mal die Schaufel so kurz vor Priassos Kopf, dass einem das Herz stillsteht. Hier bringt Boivin das echte Gefühl für Risiko ins Spiel, das im Zirkus immer weniger den Puls beschleunigt. Zumindest gibt er ihm ein überraschendes Gesicht. „Transports exceptionnels“ heißt dieses kleine Meisterwerk, das der verrückte Priasso sogar bei Regen aufführt und das jeden Ort verzaubert. (www.ciebeaugeste.com)
Beim Festival Coup de chauffe in Cognac (www.avantscene.com) war er nicht vertreten. Trotzdem gab es dort einen guten Jahrgang zu bestaunen. Eine der besten Ideen war, Producciones imperdibles aus Spanien einzuladen. Sie stehen für jene Kreationen, die sich in ihren eigenen Arenen inszenieren. Auch das hat mit Zirkus zu tun, wo die Architektur des Zelts immer öfter auf das Konzept der Aufführung ausgerichtet wird. In „Requiem 21 K 626“ konfrontieren sie Mozart und Videos, Tanz und einen vertikalen Blick des Publikums, das auf einem Gerüst in zwei Etagen über den Köpfen der Tänzer das Geschehen umrundet. Es geht um die Geschichte der Auswanderung nach Südamerika und um die Suche nach einer verschollenen Person. Sublime Bilder, Tanz und Theater verschmelzen zu einer Reise in das Unterbewusstsein des 21. Jahrhunderts. Da ist nicht alles perfekt. Die Choreografie, etwas naiv und plakativ, weiß sich dem Rundumblick des Publikums aus der Vogelperspektive nicht immer anzupassen. Aber die Projektionen bringen das gewisse Etwas, wenn sie mit Bildern von Zellen, Embryonen, Organen und Blut (aber sehr ästhetisch!) unser Verhältnis zur Modernität und zu unseren Ursprüngen hinterfragen. Dazu kam die Kompanie mit einer Installation. In einem achteckigen Zelt laufen auf vier Bildschirmen Videos von Breakdancern, die Tanzaufnahmen und synthetische Bilder kombinieren. Auf jedem Bildschirm läuft eine andere Choreografie, unterlegt mit verlaufender Farbe und Formen. Zwischen Videokunst und Tanz kann sich der Besucher frei bewegen. Der Witz besteht nun darin, dass der Hip-Hop (eigentlich ein Straßentanz, aber immer mehr in Theatern präsent) hier ohne Tänzer aus Fleisch und Blut daherkommt und dennoch im Bereich Straßenkunst auftritt, wo er dem Zuschauer im Zelt eine Freiheit zurückgibt, die er gerade in der Straßenkunst genießt: die Bewegungsfreiheit. „Danza Break“ heißt das Konzept ganz einfach. (www.imperdible.org)
Eine ganz andere Art von Installation zeigten die Absolventen der Ecole Nationale Supérieure d’Architecture in Nantes, die in Cognac Installationen präsentierten. Die sind das Ergebnis eines Workshops mit Michel Crespin. Es waren humorvolle, mit viel Intelligenz kreierte Werke. Ein spukender Schrank, ein Turm aus Haushaltsgeräten, auf dem ein WC thront, taiwanesische Anleihen oder eine Schlafzimmereinrichtung. Die auch akustischen Installationen unter dem Titel „Objets intimes à la rue“ zeugen von Ängsten, Erinnerungen und Ausschuss der Konsumgesellschaft. Sie sind ein gelungenes Beispiel für fruchtbare Begegnung zwischen Straßenkunst und anderen kreativen Sparten. Von solchen grenzüberschreitenden Initiativen sähen wir doch gerne mehr.
Noch ein getanztes Großprojekt, das sein Theater gleich mitbringt, ist „Noces de trottoir“, gemeinsam kreiert von den Kompanien Tango Sumo und Vendaval. Das Publikum nimmt auf hölzernen Rängen Platz, fast wie in einer Radrennbahn. Reichlich Tänzer, flotte Rhythmen, Latino-Ambiente. Die Geschichte der „Hochzeit“, die das Stück etwas weitschweifig erzählt, ist auch die der Kompanien, zwischen den Herren von Tango Sumo und den Damen von Vendaval. Zwar hat der Dramaturg nicht seinen kreativsten Tag erwischt, aber die Truppe macht das durch Energie und Temperament reichlich wett. (www.tangosumo.com; www.vendaval.fr)
Das neue Stück der Fassadentänzer von Retouramont heißt „Vide accordé“. Sie brauchen ein Paar Wohntürme, an denen sie ihre Seile aufspannen können. So gehen sie dorthin, wo das Publikum ist. Drei in schwarz gekleidete Frauen erfüllen sich den Traum vom Schweben. Aber sie müssen dafür ständig an den Spannseilen klettern. Die Idee hat viel Poesie und Eleganz, aber die Choreografie ist doch etwas lahm. An Fassaden, Autobahnbrücken und Ähnlichem haben sich Retouramont schon munterer gezeigt. (http://pagesperso-orange.fr/cie.retouramont)
Die Idee der Installation kann sich aber auch am Körper selbst realisieren, wenn der zum Kunstobjekt und schließlich wie eine Statue weggetragen wird. In „Gens de couleur“ der Kompanie Ilotopie „versteinern“ die Figuren in Schaumstoff, der zunächst aus Flaschen und Bottichen quillt und dann zum Sockel wird. Zwei Helfer befreien sie per Säge, um sie auf einem Kleinlaster abzutransportieren. „Gens de couleur“ spielt natürlich auf Rassismus an, ist aber vor allem ein heiteres Farbenspiel der Körper für Groß und Klein, das allerlei Fantasien bedient. Eine knallbunte Art, ins Unterbewusstsein abzutauchen. Die grünen, blauen, roten, gelben oder lila Farbmenschen ziehen zunächst einzeln durch die Straßen. Dann versammeln sie sich zum kollektiven Schaumbad, das bei Kindern unweigerlich Assoziationen von Himbeere etc. freisetzt. Und bei Erwachsenen ... (www.ilotopie.com)
Ähnlich körperlich verfährt das italienische Teatro Silenzio, doch hier tragen die Mimen alle weiße Rüschen und führen das Publikum durch die Straßen, um immer wieder als Reliefs und Statuen eine ungeheure Poesie zu entfachen. Das Stück ist nicht das neueste, hat aber nichts von seinem Charme verloren. Im Gegenteil, im Vergleich mit vielen aktuellen Produktionen treten seine Qualitäten umso deutlicher zutage. Lebendigkeit des Alltags und Bleichheit des Todes finden immer wieder eine Wand, einen Baum, ein Fenster oder ihre Zuschauer, um die sie sich formieren und in ihren Standbildern Alltag mit Tragödie verweben.
Andere Mimen, die das Publikum mit viel Geschick durch enge Straßen locken, sind Les Apostrophés. Ihre Jonglage mit Kaffeetassen im Café, ihr Tango mit einem Baguette im Mund, ihr Balanceakt auf der Mauer mit wirbelndem Zwiebelnetz und Einkaufskorb sind Kleinode einer Kunstszene, die hier ihren ganzen, tiefen und breit gestreuten Reichtum offenbart. „Passage désemboîté“ ist ein beeindruckendes Beispiel dieser Kreativität. Drei Franzosen und die Deutschen Martin Schwietzke und Jörg Müller bedienen sich einfachster Situationen des Alltags und verwandeln sie mit schier unglaublichem Witz, mit Virtuosität und Chuzpe in surrealistischen, grotesken und zugleich filigranen Slapstick. (www. lesapostrophes.com)
Und so sind wir bei den Paraden gelandet, den leichten und den monumentalen, Paraden des Tages und Paraden der Nacht. Zum Tag: Es ist ... Wahlkampf. Die Kompanie Générik Vapeur rollt im Geldtransporter an, bläst Spielgeld in die Luft. Karikaturen von Politikern schütteln Hände. Los geht’s. Dieses Spektakel gehört ins Herz der Stadt, auf die Einkaufsstraße. Rockmusik, Reden, Fahnen. „En campagne“, im Wahlkampf also, zertrümmern sie einen Fernseher, halten groteske Reden in allen möglichen Sprachen, balancieren auf Wahlurnen und lassen ein Flugzeug in eine Urne krachen. Eine der besten Paraden überhaupt, politisch provokant, dynamisch, abwechslungsreich, voll mächtiger Symbole. Und ein Riesenspaß! (www.generikvapeur.com)
Und nachts kommt das Monster. „Helios II“ der Kompanie Malabar ist ein Klassiker. Das riesige Insekt und seine im farbigen Rauch der Knallkörper tanzende Gefolgschaft spielen mit der Lust an Fest und Furcht. Im Finale gibt es Feuerwerk, getanzte Martial Arts und Akrobatik. Diese klassische Parade hat das Format, eine ganze Stadt eine Nacht lang zu verzaubern. Mindestens. (www.ciemalabar.com)
Zum Schluss noch Neues aus Seoul. Hier kommt das Straßentheater, langsam, ganz langsam, aber es kommt. Eine einzige Kompanie gibt es bisher in Südkorea, gegründet von Theaterprofessoren der Universität Seoul. Und 2008 zum ersten Mal ein kleines Festival, im Rahmen eines Stadtfestes, dem Fest der Frühlingsblumen im Stadtviertel Youngdeungpo-gu. Dessen Leitung beauftragte die Kompanie (Zentrum für Kunst ohne Grenzen), das Publikum mit neuer Kunst zu konfrontieren und so den üblichen Mix aus Kirschblütenfest und Shows zu durchbrechen. Fünf Aufführungen sollen stattfinden. Es ist ein erster Schritt.
Redaktion: Thomas Hahn
2008-03-15 | Nr. 58 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn