Wie eine Kommando-Attacke begreifen anscheinend einige das spektakuläre „Memento“ (s. Trottoir Nr. 65) von KomplexKapharnaüm. Da klagte die örtliche Vereinigung der Kriegsveteranen gegen das Festival Les Turbulentes in Parthenay, um zu erwirken, dass die Kompanie nicht in der Nähe des dortigen Kriegerdenkmals aufführen darf. In einer Kleinstadt mit 10.000 Einwohnern ist das gar nicht einfach.
Das nächste Opfer politischer Mutlosigkeit ist das Kollektiv Ornic’art aus Marseille. Deren „Kärcher-Ballade“ ist eigentlich das ideale Folgestück für eine Performance von Princesses Peluches, denn da heißt es: Wasser marsch, und die Straße gesäubert! Satirisch überhöht natürlich, und unbotmäßig, aber mit viel Seife aus Marseille und einer Rutsch-Choreografie voll urbaner Gleitfähigkeit. Das alles dient in ihrer Fiktion dazu zu testen, ob durch die Säuberung nun mehr Zärtlichkeiten ausgetauscht werden. Zu Beginn wird gegen Sarkozys Politik gewettert, und so wird die Performance auch selten aufgeführt, und schon mal illegal. Aber dann gibt’s natürlich auch kein Geld für die Kompanie. Sie berichten, dass ihnen schon öfter gesagt wurde: „Wir würden das Stück ja nehmen, aber nur ohne die politischen Statements am Anfang.“ Das verweigern sie. Im Gegenteil, sie organisieren selbst kleine Festivals in Marseille und Paris unter dem Titel „Désordre urbain“ – Chaos in der Stadt. Eine Kampfansage. Da „besetzen“ Künstler ein Viertel und rufen dort jeden Tag aufs Neue „Baustellen“ aus. Es kann sehr experimental zugehen, aber nicht systemlos. Alle studieren eingehend die „sichtbaren und unsichtbaren, sozialen, architektonischen und historischen Grenzen“, die das Viertel durchziehen. Erst danach setzt man sich zusammen und definiert die geeigneten Formen von Performance. „Désordre urbain 2010“ lädt im Mai auch das Kollektiv Non Grata mit dessen Wanderfestival Diverse Universe nach Paris ein. Alle Mitglieder von Non Grata sind anonym, und bei ihren Happenings kann es richtig zur Sache gehen. Willkommen in den 70ern, der Kampf beginnt von vorn (www.ornicart.org, www.nongrata.ee)
Ziemlich kratzfest sind auch Les Antipodes, eine Kompanie aus Nizza, die sich dem Outdoor-Tanz verschrieben hat. Sie reiben sich gerne an Wänden oder den Schäferhunden des Publikums. In „Ad Libitum“ erzählen sie von Migranten, Armut und dem Willen, Mauern zu überwinden. Ihr ganzes Hab und Gut sind Jutesäcke und das Publikum darf helfen, die zu tragen. Es wird wirklich gewandert, bis die große Mauer erreicht ist, und der symbolische Kampf der Mobilität gegen die Blockade der Materie. Diese Tänzer schonen sich nicht. Auch in ihrem Trio „Les Ponctuels“ (die Pünktlichen), wenn sie Zeitung lesend auf einer Parkbank sitzen, ist es mit der Ruhe schnell vorbei. Sind sie Banker oder Obdachlose? Aus der Funktionalität des Business ausgebrochen, haben sie plötzlich Zeit, bemächtigen sich ihres Körpergefühls und entledigen sich ihrer Anzugjacken. Dann suchen sie den Kontakt, auch körperlich, mit den Zuschauern.http://compagnieantipodes.free.fr/Web%20publi/clip%20acceuil.html
Den Coup der Saison in Sachen Mobilität landete allerdings Nathalie Pernette mit ihrer Kompanie und dem Programm „Les Miniatures“, vier kurzen Stücken von drei bis zwanzig Minuten Länge, einzeln aufgeführt. Da läuft das Publikum von „La Rose“ zu „L’apparition“ oder von „L’insomnie“ zu „Les oignons“. Die Leute warten dreißig Minuten oder länger, um drei Minuten Tanz zu sehen! Recht haben sie, diese Miniaturen sind so sensibel, überraschend, filigran gestaltet und getanzt, dass das Konzept voll aufging. So stand etwa Chalon dans la rue ganz im Zeichen Pernettes (www.compagnie-pernette.com).
Eine fast unsichtbare Art, den öffentlichen Raum zu erobern zeigten, ebenfalls in Chalon, Ici Même aus Grenoble. „Vous laisseriez-vous guider par un(e) inconnu(e)?“, fragen sie: Würden Sie sich von einem/r Unbekannten führen lassen? Und zwar mit geschlossenen Augen, Hand in Hand, mitten durch den Stadtverkehr! Einmal als Blinder erfahren, wie die Stadt klingt, wenn man ihr wirklich zuhört und ihre Geräusche nicht nur als Hintergrund betrachtet. Auch eine Art, subversiv innere Mobilität zurückzuerobern (www.icimeme.org).
Redaktion: Thomas Hahn
AdNr:1069