Nicht einfach mal eben so wird Musikalität und Virtuosität aus dem Boden wachsen. Das, was Künstler im Blut und im Bauch haben, muss mit harter Arbeit auf den Weg gebracht und in Musik umgesetzt werden. Am Ende aber entsteht der Eindruck, als sei das alles vergessen, und dann ertönt Musik mit der Leichtigkeit des Seins als schönste Nebensache der Welt.
Die brasilianischen Brüder Odair und Sergio Assad sind DAS Gitarrenduo unserer Zeit. Regelmäßig drängen sich vor den Konzerthallen Menschenmengen, um die beiden live zu erleben. Was sich dann im Konzert ereignet, ist unglaublich. Für Odair und Sergio müsste man Superlative neu erfinden. Beide Musiker beherrschen das Gitarrenspiel technisch perfekt. Beide zeigen eine gigantische interpretatorische Sicherheit. Und die Art und Weise, wie sich diese begnadeten Fähigkeiten im Duo-Spiel potenzieren können, ist unfassbar. Da geht selbst im Strudel virtuoser Läufe über den Gitarrenhals kein Ton verloren. Gitarristik wird zum konzertant-orchestralen Erlebnis.
Etwa dann, wenn die Assads Albeniz „Cordoba“ zu einer traumhaften Inszenierung aufbereiten. Oder wenn sie Rodrigos „Tonadilla“ in eine wirbelnde Tempo-Rhythmus-Melodie-Feier verwandeln und der Fröhlichkeit dieses Werkes Ausdruck verleihen.
Pausen zwischen den einzelnen Sätzen verleiten an diesem Abend dazu, der Begeisterung freien Lauf zu lassen und zu applaudieren. Einige tun es auch! Sei’s drum. Es ist schon schwer genug, auf den Stühlen zu bleiben, wenn das Duo in Sergio Assads „Tahhiyya li Ossoulina“ ein tonales Feuerwerk abbrennt, das am Musikantenhimmel wie ein Lichterglanz voller Melodik und Perkussion abbrennt. DAS Duo lässt zudem die Grenzen der Musik dahinschmelzen. Astor Piazzollas „Invierno porteño“ und „Zita“ verbinden Klassik mit argentinischem Tango, Jazz und Sinti-Swing.
In diesem Konzert ist nichts zwanghaft. Da steht die Musik an erster Stelle. Und die Zuhörer genießen das, was die Assads ihnen auf die Ohren schicken. Das aber ist nicht irgendeine Interpretation, sondern eine Form von Musik, die in dieser Urgewalt der tonalen Artistik ihresgleichen sucht. Sergio Assad sorgt selber für den Nachwuchs, intoniert mit seinem Bruder die wunderschönen drei „Valsas de Rio“ seiner Tochter Clarice. Und auch die atemberaubenden zeitgenössischen Tondichtungen von Dyens finden ihren Weg ins Herz des Auditoriums, ebenso wie Sergio Assads romantisch-verträumtes „Farewell“.
Am Ende tobt das Publikum, feiert die Assads mit allen zur Verfügung stehen Mitteln. Es fehlen allein die Superlative.
Über in der Regel ausverkaufte Konzerte kann sich auch ein anderer Künstler freuen. Wer versäumt schon gerne David Russell, die derzeitige Nr. 1 der Gitarristikwelt, vielfach preisgekrönt und gar mit dem Grammy Award ausgezeichnet. Die Recitals von Russell sind wahrhaft genial. Einmal mehr zeigt er, wie interpretatorischer Tiefgang und technische Vollendung notierte Vorlagen in akustische Hörerlebnisse verwandeln können. Wie ein roter Faden zieht sich seine Option auf wohltuenden Wohlklang durch das Programm. Es wäre müßig zu beschreiben, mit welcher Brillanz Russell sich in die Werke hineindenkt und einfühlt. Das Ergebnis bliebe gleich: Kompositionen – versehen mit dem Russell-Bonus. Giuliani hätte seine Freude daran gehabt, wie dieser Gitarrist seine „Grand Ouverture“ dazu benutzt, die Leichtigkeit des klanglichen Seins zu demonstrieren. Milanos „Four Fantasies“ geraten unter den virtuosen Fingern Russels zu einer Musik, die – so der Interpret – Leonardo da Vinci schon beim Malen genossen haben mag.
Authentizität liegt Russell ebenso am Herzen wie das Erzeugen von klanglichen Traumreisen, die lediglich zwischen den Stücken durch den frenetischen Applaus des Publikums wieder zurückführen in das Hier und Heute. Granados poetische Walzer oder auch die „Hungarian Fantasy“ von Mertz geraten da zur musikalischen Poesie. Dowlands Gefühlswelt reicht vom „sad“ „Lacrimae Pavan“ bis zur Fröhlichkeit der „Dowland Galliard“. Hans Haugs Musik gerät unter den Fingern Russels zum meditativen Akt mit expressiven Elementen. Und Sojos „Five Pieces from Venezuela“ versieht dieser Gitarrenmann mit kontemplativer Ruhe, die jeden Ton in seinem vollen Glanz erstrahlen lässt. Am Ende staunt man über das, was über das musikalisch Machbare hinauszugehen scheint.
Selbst in der klassischen Gitarristik ist man allerdings vor Überraschungen nie sicher. Mit dem Tschechen Pavel Steidl hört man einen virtuos phänomenalen Gitarristen, der Klassik nicht nur spielt, sondern mit ihr spielt. Nicht bierernst und dennoch tief eindringend in das, was die Komponisten ausdrücken wollten. Dass es dabei mehr zu entdecken gibt als kompositorische Strukturen, ist Steidls Verdienst. Er spürt den Ernsthaftigkeiten ebenso nach wie den hinter tausend Noten versteckten Humoresken. Pavel Steidl „verkörpert“ Musik, setzt sie grandios auf seiner historischen Gitarre um und begleitet die einzelnen Phrasen mit einer Mimik, bei der sich das Auditorium ein Lächeln oder gar Lachen nicht verkneifen kann. Mertz oder Paganini – mit Steidl kann man sie neu entdecken. Und es ist auch kein Vergehen, sich bei einer atemberaubend fließenden Ciaconna von Bach zum Mitsingen mitreißen zu lassen oder den Takt mit den Füßen zu unterstützen. Es hat den Anschein, als würde der tschechische Virtuose nebenher musizieren, einfach so, zu seinem Vergnügen. Dabei aber wird das, was er interpretiert, zur wunderschönsten Nebensache der Welt. Legnanis „Capricen“ gestaltet Steidl zu einer fantasievollen Liebesgeschichte, kokettiert mit den Klangfarben, die er liebevoll entfaltet, gibt dem Ganzen musikalischen Esprit.
Das Publikum genießt diese neue Form des klassischen Entertainments. Es lässt sich gerne mitnehmen in eine Welt der Gitarristik, die Spielraum lässt für eigenes Denken und Fühlen, die das scheinbar Wichtige, aber auch die verborgenen „Jokes“ entlarvt. Da bleibt auch Mauro Giulianis „Rossiniana“ nicht nur eine Auseinandersetzung mit Rossini, sondern erweist sich unter den sensiblen Fingern des Saitenmagiers Steidl als Saitenzauber, der seinesgleichen sucht.
Bei allem ist Steidl kein Effekte heischender Mensch, sondern ein Gitarrist, der erfreulich anders denkt und interpretiert. Drei Zugaben erklatschen die Zuhörer. Eine davon: Lambada „Für Elise“. Der Titel spricht für sich. Und für einen großartigen Interpreten.
Wenn man Gitarrenmusik mit bestimmten Ländern assoziiert, fällt einem mit Sicherheit als Erstes Spanien ein. Mit der Rheinischen Philharmonie und Solisten durfte ich die „Spanish Night“ genießen. Vor allem gelang es den Philharmonikern unter dem Dirigat von Rasmus Baumann, die musikalischen Dialoge aufzunehmen, die sie mit den Solisten in Werken von Joaquin Rodrigo führten. Dessen „Fantasia para un gentilhombre“ gehört zu seinen Meisterkompositionen. Und ebenso meisterlich, virtuos und durchdacht wurde sie von dem Neapolitaner Aniello Desiderio in Szene gesetzt. Einfühlsam generierte er die Facetten der Gitarristik im Kontext des sinfonischen Klangs. Mit überzeugenden Phrasierungen und interpretatorischer Sorgfalt begeisterte er das Publikum derart, dass man ihn nach Standing Ovations und minutenlangem Applaus nicht ohne Zugabe gehen ließen.
Der Grieche Costas Cotsiolis knüpfte mit seiner Interpretation des Rodrigo-Hits „Concerto de Aranjuez“ nahtlos an die gitarristische Versiertheit seines Vorgängers an. Nach der triumphalen Madrider Premiere des Concierto de Aranjuez für Gitarre und Orchester im Jahre 1940 wurde Rodrigo als Spaniens größter Komponist seit Manuel de Falla gefeiert. Nicht zuletzt, weil seine Komposition die typischen spanischen Klänge, Elemente des Flamenco und der orientalischen Folklore enthält, gehört sie zu den populärsten Werken für Gitarre und Orchester. Cotsiolis Gitarrenspiel unterstützte auf geniale Weise die Dynamik, Farbenpracht und Melodik dieses Concierto.
Aber bleiben wir in Spanien. Dort regiert der Flamenco. Und wer von Flamenco redet, kommt um ihn nicht herum, um Gerardo Núñez. Er gilt neben Paco de Lucía als einer der wichtigsten Vertreter des zeitgenössischen Flamencos. Núñez ist dabei nicht nur ein virtuoser Gitarrist, sondern ein Musiker, der den traditionellen Flamenco öffnet für Jazz-, Rock- und Popelemente. Seine CD „Jazzpaña II“ gewann 2001 den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ und den „German Jazz Award“. Was der Flamenco-Meister vor größtenteils ausverkauften Häusern auf seinem Instrument zaubert, ist an Kreativität kaum zu überbieten und weit entfernt von dem, was früher drei Akkorde bewirkten. Die Zuhörer werden hineingezogen in einen Strudel aus landestypischer Flamenco-Melodik und einer Rhythmik, die derart pulsiert und grooved, dass es einem fast die Beine wegschlägt. An dieser spanisch-weltmusikalischen Urgewalt sind seine Mitmusikanten nicht unerheblich beteiligt. Sensibel mitdenkend und impulsiv umsetzend markiert der Perkussionist Cepillo die unendlich treibende Kraft, die er großartig für die einzelnen Núñez-Kompositionen aufbereitet. Pablo Martin am Kontrabass ist eine Ausnahmeerscheinung: Eins mit dem Instrument und Sound und Song verpflichtet, gelingt ihm ein fast akrobatischer Fingertanz auf den Saiten, der die dynamische Entwicklung in dieser Musik noch weiter vorantreibt. Das Núñez-Trio ist fantastisch aufeinander eingespielt. Mit expressiven Klangtiraden und absolut präzisen Breaks verfehlt die Formation ihre musikalische Wirkung nicht. Das Auditorium liegt ihnen zu Füßen, lässt sich „einlullen“ von elegischer Schönmelodik und mitreißen von einem atemberaubenden Flamenco-Freudentaumel mit unglaublicher Power. Das Gerardo Núñez Trio ist nicht einfach nur ein Erlebnis. Diese Musiker und ihre Musik ereignen sich.
Bis demnäx
Euer Bernhard Wibben
2006-09-15 | Nr. 52 | Weitere Artikel von: Bernhard Wibben